Die Verabschiedung - Page 3

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essen, frühstücken, anziehen, das Auto aus der Garage holen. Die Kopftuchmädchen schrieben fleißig mit, aber der Junge aus Sri Lanka konnte nicht einmal den Stift richtig halten, er grinste nur unverschämt. Die beiden Rumäninnen reihten nur einzelne Wörter aneinander, hauptsächlich Personalpronomen: Ich, Er, Sie, Du, Es. Gelegentlich erkannten sie ein Wort wieder und schrieben es im Infinitiv hin, ein konjugiertes Verb wollte ihnen nicht gelingen. Der Junge aus dem Irak beugte seinen Kopf tief über das Blatt, als Peter Schaller an seinem Tisch vorbeikam. Der Syrer schrieb bis auf ein paar Fehler alles richtig hin.
Als Peter Schaller das Diktat beendet hatte, las er den gesamten Text ein zweites Mal vor. Beim Vorlesen des Textes entstand bereits eine Unruhe, dessen Herd er beim Kosovaren vermutete. Er ging auf dessen Tisch zu und schlug mit der flachen Hand darauf. Er schaute dem kosovarischen Jungen tief in die Augen und sagte dann, durch die Zähne gepresst: „Aufpassen!“

Mit Müh und Not schaffte Schaller es, die Konzentration für den Rest der Stunde hoch zu halten. Als die Glocke zur Pause ertönte, entwich sowohl aus Schallers als auch der Kinder Körper schlagartig die gesamte Anspannung. Das Werk war vollbracht. Er hatte seine Autorität bewahrt. Aber auch hier kam keine Form des Stolzes auf. Warum nicht? Weil er keinen der Schüler zum Umdenken bewegt hatte. Sie reagierten nur auf Härte und Unnachgiebigkeit. Mit eiserner Strenge konnte man sie dazu bewegen, eine gewisse Form der Disziplin zu wahren, da sie diesen Unterrichtsstil aus ihren Herkunftsländern gewohnt waren. Aber, so hatte Frau Göpel in einer Lehrerkonferenz erklärt, das eigentliche Ziel sei es ja nicht, die allzu autokratische Bildungskultur ihrer Heimatländer nachzuahmen, sondern ihnen den demokratischen Erziehungsstil angedeihen zu lassen, was ungleich schwerer, und vor allem zeitaufwändiger war. In einer Einzelstunde, noch dazu in einer Vertretung, konnte man dies nicht bewerkstelligen, und so wählte Schaller jedes Mal den Weg des geringsten Widerstands: Härte.

Schaller verließ den Raum grußlos, und begegnete auf dem Flur der Ablöse für die Folgestunde.
„Und, wie sind die Kinder drauf?“, fragt Frau Dräger gut gelaunt.
In zehn Minuten vom Linksliberalen zum AfD-Wähler, wollte Schaller bemerken, aber er kannte Frau Dräger als relativ humorlose Kollegin, bar jeder Selbstironie, und so sagte er, dass alles in Ordnung gewesen wäre.

Die sechste und letzte Stunde des Tages verschwendete Peter Schaller wieder vor seinem Computer hinter verschlossenen Türen in seinem Büro. Er musste die Zeit bis zum Schulschluss überbrücken um dann die Verabschiedung seines Kollegen Harald Mertig gebührend begehen zu können. Der Nachmittagsunterricht war für diesen Tag abgesagt, alle Kollegen waren dazu angehalten, ins Landheim nach Bahrnau zu fahren, einer im Ländlichen gelegenen Herberge, die der Schule gehörte. Schaller wartete nach dem letzten Klingeln noch weitere zwanzig Minuten im Büro, um nicht noch auf Kollegen zu treffen, die ohne fahrbaren Untersatz gekommen und auf die Hilfe motorisierter Lehrer angewiesen waren. Als die Geräusche im Flur und die Geräusche startender Motoren draußen erstarben, nahm Schaller die Jacke vom Stuhl und ging gemächlich nach draußen. Sein schwarzer Mercedes 200D stand verloren auf dem Lehrerparkplatz und absorbierte die Hitze des Spätsommers. Schaller machte für ein paar Minuten alle Türen auf und ließ die angenehmere Außenluft einmal durch das Innere des Wagens zirkulieren. Dann stieg er ein und fuhr los.

Keine vierzig Minuten später fuhr er durch die breite Einfahrt des Herbergsgeländes. Vor dem Eingang des Hauptgebäudes standen schon etliche Kollegen, darunter auch einige Pensionäre und deren Gattinnen. Der alte Schulleiter war ebenfalls da und unterhielt sich angeregt mit Georg Weber und einem pensionierten Sportlehrer. Die Referendare standen am Grill und bereiteten das Fleisch und die Salate vor. Um die aufgestellten Stehtische herum wuselten ein paar Oberstufenschüler, die sich freiwillig zum Kellnern bereit erklärt hatten. Schaller parkte seinen Wagen, holte aus dem Kofferraum das in Altpapier eingewickelte Buchgeschenk für seinen Kollegen Harald Mertig und gesellte sich dann zu der Gruppe müßig herum stehender Lehrkörper.

Er war durch die vielen vorhergehenden Feste bereits geübt darin, an jedem Stehtisch ein lockeres Gespräch mit aktuellen, alten und angehenden Kolleginnen und Kollegen zu initiieren. Zu einem großen Teil bestanden diese Gespräche aber aus Automatismen: mit alten Kollegen sprach er über Familie und Gesundheit, mit aktuellen Kollegen über gemeinsame Schüler und Erfahrungen, mit angehenden Kollegen über grundsätzliche Philosophien der pädagogischen Arbeit. Die Gespräche waren oft die gleichen, nur die Kollegen änderten sich. Bei aller Freundschaftlichkeit waren diese Gespräche auch Kalkulation: die alten Kollegen verfügten teilweise über Kontakte zu Entscheidern, die in der Bezirksregierung saßen, mit den aktuellen Kollegen musste man ein Auskommen finden, da im Konfliktfall ihre Sympathie wichtig war und die neuen Kollegen konnten einem künftig die ein oder andere Arbeit abnehmen. Nur für eine Handvoll Kollegen empfand Schaller so etwas wie echte, tiefgründige Sympathie. Nur hier fand ein Austausch statt, den Schaller als belebend, humorvoll und tiefgründig empfand. Einer dieser Kollegen war Harald Mertig.

„Und, Harald, bereit für die Abschiedszeremonie?“, fragte Schaller ihn in leicht ätzendem Tonfall.
Harald lächelte milde. „Die meinen’s ja nur gut“, gab er sich nachsichtig.

Über den Flurfunk war kolportiert worden, dass die Deutsch-Fachschaft einen klassischen deutschen Schlager eigens für ihn umgedichtet hatte. Schaller stellte sich auf einen jener Fremdschäm-Momente ein, der für die Verabschiedungen am Leonhard-Euler Gymnasium so kennzeichnend war. Dabei war den Kollegen kein Vorwurf zu machen, denn Verabschiedungen erfolgten immer zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: entweder am Ende eines Schuljahres oder Schulhalbjahres oder zumindest kurz vor den Ferien, also zu einer Zeit, in der den Kollegen der Schulstress schon in den Knochen steckte und sie erschöpft die Tage bis zum Beginn der Ferien zählten. In diesem Zeitfenster dann noch einen fulminanten Abschied mit grandiosen Laudatoren, einem unterhaltsamen Programm und standing ovations zu erwarten, dafür war die personelle Fluktuation im Schulbetrieb doch zu groß. Harald Mertig konnte dankbar sein, dass er an diesem Tag der Einzige war, der verabschiedet wurde. Auf dem vorhergehenden Fest vor den Sommerferien waren drei Kolleginnen in den Ruhestand getreten, und bei der Letzten, Frau Lehweiß, konnte die Kollegin von Glück sagen, dass keiner nach dem eineinhalbstündigem Verabschiedungszeremoniell seinen Gefühlen freien Lauf

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