Moschus - Page 2

Bild zeigt Monika Laakes
von Monika Laakes

Seiten

einfachverglasten Fenster und durch die Ritzen des abbröckelnden Putzes.
*
Als die kleine Frau beinahe gestorben war, da klopfte es an ihre Türe.
>Darf ich reinkommen?<
Ein junger, bärtiger Mann steckte den Kopf durch die Türe und streckte ihr beide Hände entgegen. Hinter ihm erschien eine junge Frau mit runden bernsteinfarbenen Augen. Die Enkelin, ging es ihr blitzschnell durch den Kopf. Dann wieder dumpf und trübe nichts, kein Schimmer des Erkennens. Nichts. Die kleine Frau saß in ihrem gelbgrauen Sessel und hielt die Arme vor der Brust verschränkt.
>Er wird hin und wieder nach dir sehen, Oma. Er ist ein Zivi.<
>Was ist ein Zivi? Was will er?<
>Er ist ein junger Mann, der keine Waffen anrührt. Einer, der Zivildienst macht. Verstehst du? Er wird sich um dich kümmern. Er geht mit dir, wohin du willst.<
>Wohin ich will?<
>Ja.<
>Gut.<
Die kleine Frau stand auf, nahm ihre Tasche, sah zum Fenster hinaus auf die Straße, auf die vorbeisausenden Autos, auf die gelben Forsythiensträucher in ihrem kleinen Vorgarten und auf das schmiedeeiserne Tor, das, nur angelehnt, bei jedem Windstoß leicht quietschte.
>Es ist stürmisch draußen. Ich werde mir ein Tuch umbinden müssen<, bemerkte sie.
Der Bärtige hatte sich hinter sie gestellt. Bei jedem Atemzug, den die kleine Frau tat, floss herbsüßliches Licht in sie ein. Es überdeckte das Grau des Zimmers. Und das Marienbild an der Wand bekam wieder seine alte Freundlichkeit.
>Ich möchte tanzen<, sagte die kleine Frau und wandte sich mit geradem Rücken und leicht geneigtem Kopf dem Bärtigen zu.
>Oma, das ist Jochen. Hörst du? Er wird morgen wiederkommen. Dann sehen wir weiter.<
*
Mein Verwandter hatte es mit dem Hund recht toll getrieben, denn dort wurde eine Schmerzschwelle überschritten. Und da saß der Vierbeiner mit seinem großen Verlangen. Angekettet.
Allein.
Nun hatte die junge Frau den Laden betreten. Hier, an dieser Stelle, möchte ich sie zu Wort kommen lassen:
>Als ich das Geschäft betrat, bemerkte ich die kleine Frau. Ihr Gesicht war klein, ihre Hände überaus zierlich und, was mich nicht erstaunte, ihre Stimme war so winzig, wie ihre Erscheinung. Nur das energische Klopfen des Stockes, auf den sie sich beim Laufen stützte, ließ ihre Zerbrechlichkeit vergessen.
>Haben Sie Zeit?< sprach sie mich an.
Sie musste den Satz wiederholen, denn meine Ohren hatten sich auf eine andere Lautstärke eingestellt.
>Wie meinen Sie das?< fragte ich zurück.
>Die Uhrzeit.<
Ich zog meinen Blusenärmel hoch.
>Gegen eins.<
>Er wird gleich kommen. Ich habe immer eine Stunde Zeit. Dann kommt er und holt mich ab.<
Sie hatte runde, bernsteinfarbene Augen, die funkelten plötzlich so sehr, dass ich sie immer nur ansehen musste.
>Die machen gleich den Laden dicht<, bemerkte ich noch und drehte mich zur Kasse.
>Das werden sie nicht<, hörte ich die kleine Frau, und sie klopfte mehrmals mit ihrem Stock gegen ein Regal.
>Nicht, bevor er mich holt<, setzte sie noch hinzu.
>Dann viel Glück.<
Ich ließ die kleine Frau stehen und stellte mich an der Kasse an. Vor mir standen Drei mit ihren überquellenden Einkaufswagen. Vielleicht wäre es geschickter gewesen, nicht ausgerechnet an einem Freitag einkaufen zu gehen, überlegte ich. Die Kasse klingelte. Der Nächste schob sich voran, und die Finger der Kassiererin tanzten unentwegt über die Tastatur der elektrischen Kasse.
Was tut man, wenn man nichts anderes tun kann als warten? Ich schaute mich um. Ich bemerkte einen jungen, bärtigen Mann, der heftig die Eingangstüre aufstieß, sich dann reckte, um den Laden besser übersehen zu können. Er wirkte lang und dünn in seinen blauen Röhrenjeans mit dem weiten, wollenen Pullover darüber. Ich hörte das schnelle Pochen eines Stockes.
Als der Mann an der Kasse vorbei in dem hinteren Teil des Ladens verschwand, zog er einen herbsüßen Geruch mit sich fort.
Moschus – dachte ich. Das kann nur Moschus sein.
Wieder zog mir der Duft in die Nase. Die kleine Frau stand nun hinter mir und hatte sich bei dem jungen Mann eingehakt. Die Falten in ihrem Gesicht, die vielleicht siebzig oder mehr Jahre Zeit hatten, um sich einzugraben, hatten sich so selbstverständlich gemildert, als hätte ein Visagist Hand angelegt. Wieder funkelte reines, geschliffenes Bernstein mich an.
*
Ich freue mich immer wieder, wenn mich jemand erkennt. Ich gebe es unumwunden zu – es schmeichelt meiner Eitelkeit. Zwar hat auch das Wirken im Stillen, sozusagen im Untergrund, einen besonderen Reiz. Aber, eine noch größere Lust bereitet mir das Dasein als Prominenz. So hatte ich das Leben der kleinen Frau fest im Griff.
*
Als Jochen nun seine letzten vier Monate Zivildienst bei der kleinen Frau abgedient hatte, nahm er sein Studium auf. Und wieder verwandelte sich die Welt. Wie es im Krieg gerochen hat, nach verbrannten Städten, vermoderter Kleidung und ab und zu nach dem Leder aneinander geschlagener, furchteinflößender Stiefel, so roch es jetzt nicht mehr. Nun, wo es doch so schön nach Wohlstand und Vergessen roch, wollte sich die Lunge der kleinen Frau nicht mehr so recht füllen, denn ihre Nase fand den Geruch nicht mehr, den sie so sehr liebte.
Und es kam ein Michael. Dann ein Ulrich. Und ein Stefan. Doch niemand vermochte die Leuchtkraft der Farben so zu verstärken, wie’s Jochen getan.
*
Wenn Sie mich fragen, warum ich gerade die junge Frau so sehr schätze, so nur, weil sie sich für mich und meinesgleichen interessiert.
Ist’s die von mir erwähnte Eitelkeit?
Nun hören Sie, wie sie erzählt:
Ich gehe gerne mit meinem Hund spazieren. Während ich die Welt betrachte, hat er die Nase vorwiegend auf dem Boden. Er liest Botschaften vom Asphalt, von Mauern, Grasbüscheln, niedrig hängenden Zweigen und wandert mit seiner Nase unentwegt über alles hinweg, was ihm interessant erscheint. Ab und zu macht er sich steif und lässt sich nicht bewegen, drückt seine Nase auf eine bestimmte Stelle, kratzt mit der Pfote auf ihr herum, riecht wieder daran und markiert sie zu guter Letzt. Dass er um das Zwanzigfache besser riechen kann als ich, muss er mir immer wieder zeigen. Wie mich seine Andersartigkeit und diese spezielle Überlegenheit faszinieren. Ob ich mich auch von Gerüchen so stark leiten lasse?
Ich nehme mir vor, etwas mehr darauf zu achten, und sofort stören mich die Abgase der an mir vorbeirasenden Autos. Und dann rieche ich noch Braten, Parfum, Saures, das ich nicht einordnen kann, und ich konzentriere mich wieder, da mir das Schnuppern unangenehm wird, auf mein normales, visuelles Leben. Ein Mensch ist nun mal kein Hund. Basta!
*
Dieses Basta ärgert mich nun doch. So schnell lasse ich mich nicht abfertigen. Umso mehr freut es mich, dass meine Abwesenheit ein derart großes Verlangen nach Etwas bei der kleinen Frau auslöste. Erst hatte sie immer den gleichen Traum. Musik war überall. Und sie tanzte und lachte, und sie spürte ihren Körper nicht als Gewicht, sondern als Bewegung, Wärme, sprühende Energie.
War das Glück?
Wieso hatte sich mit Jochen dieses Gefühl, dieses verschollene Etwas, nochmals bei ihr eingestellt? Herb und süß zugleich.
Manchmal möchte man das, was sich dann drinnen, ganz tief Drinnen als Verlust breit macht, wieder besitzen. Also machte sich die kleine Frau auf die Suche. Und dann war sie verschwunden.
*
Kurze Begegnungen. Winzige Steine im Lebensmosaik. Glaubwürdige Geschichten. Phantastische Geschichten. Hier und dort werden sie heute, morgen und in entfernter Zukunft immer wieder erzählt.
Und diese Frau, die ihren Hund liebte, war jung. Und hell klang ihre Stimme, wenn sie berichtete:
Ach, hätte ich die kleine Frau nur noch einmal am Arm des Bärtigen durch das Lebensmittelgeschäft laufen sehen, ich würde regelmäßig donnerstags oder freitags um die gleiche Zeit dort weiterhin eingekauft haben. Ich hatte das ungleiche Paar in mein Herz geschlossen, denn ich hatte so etwas nie zuvor gesehen. Innerhalb von Wochen war ein so außergewöhnlicher Verjüngungsprozess bei der kleinen Frau eingetreten, dass ich nicht wusste, wann er beendet sein würde. Ein Alterungsprozess ist normal, doch ein Umkehrprozess – unwahrscheinlich. Doch so wahr ich hier stehe, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wie gerne hätte ich sie noch nach ihrem Geheimnis gefragt.
*
Ich, ein gestaltloses Etwas, nur wahrnehmbar, wenn ich durch die verschiedenartig geformten Nasenlöcher bis zur Riechspalte vordringe und dort mit den Riechzellen zusammentreffe, kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich ein angenehmer und raffinierter Vertreter meiner Gattung bin. Jedoch gibt es recht unausstehliche Verwandte, für deren Existenz sogar ich mich schäme und entschuldigen möchte. Genug des Fabulierens!
Da ich meine Macht über die kleine Frau genieße, macht es mich stolz, weiter über sie berichten zu können:
Es war schwierig, die Identität der kleinen, sehr alten Frau festzustellen. Als man sie fand, musste sie schon lange unterwegs gewesen sein. Sie kauerte, auf ihren Stock gestützt, am Rande der Autobahn. Irgendein Autofahrer, es war ein Fernfahrer, hatte an einer Raststätte Bescheid gesagt. Man holte sie mit einem Krankenwagen. Sie lag auf der Bahre und nahm wenig mehr als die Hälfte der Tragfläche ein.
>Ein Federgewicht<, bemerkte der Sanitäter.
Wie sieht Bernstein aus, wenn er nicht geschliffen ist? Kann er so matt sein, wie die Augen der alten Frau?
Wie oft kann man glücklich sein? Sind es immer nur winzige Momente, die sich in Traurigkeit auflösen? Und was, wenn man sich vor der Traurigkeit schützt? Stirbt dann die Wärme unter dem Panzer?
Die kleine Frau hat diesen Schutz nie gehabt. Und man brachte sie in ein fremdes Haus, dessen Türen nur von außen zu verschließen waren. Und abermals hatte sie einen Traum. Und es roch nach verbrannten Städten, vermoderter Kleidung und nach dem Leder von furchteinflößenden Stiefeln.
*
Geben Sie nur acht, sonst ergeht es Ihnen wie der kleinen Frau. Mein Wirken ist frei von jeglicher Moral und das lässt mich vielen Menschen so ähnlich sein.
Ach, hätte ich einen Wunsch frei, so würde ich in die Gestalt eines Menschen schlüpfen, um über meine Erfolge Bücher über Bücher zu schreiben.
Vielleicht wird mir das eines Tages gelingen. Ich bin sicher, dieser Tag wird kommen.
Geben Sie nur acht!

Seiten

Bolero und Peitsche 2000

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: