Marie reihte sich in die Schlange der Trauernden ein. Sie hatte einen klaren Kopf. Sie hatte immer einen klaren Kopf, wenn es darauf ankam. Sie musste noch ein paar Schritte gehen, um an das Grab zu gelangen. Dort lag eine kleine Schaufel bereit, und es lagen kleine Blumensträuße auf einem Tisch, und jeder der Abschiednehmenden warf eine Schaufel voll Erde auf den Sarg und warf einen Strauß Blumen hinterher, und wer nahe genug war, konnte das dumpfe Aufklatschen auf den Sarg hören. Marie machte es gewissenhaft. Sie häufelte die Schaufel voll Erdkrumen und nahm einen Strauß Stiefmütterchen, und es klatschte wieder dumpf in der Gruft. Marie schüttelte die Hände der Hinterbliebenen.
Er, knappe vierzig, wirkte müde und hilflos, die beiden Kinder, vierzehn und sechzehn, waren außergewöhnlich gefasst und stützten ihren Vater.
Händeschütteln, Trauer, eine bisschen Sensation und Gänsehaut, und die Schlange der Anteilnehmenden zog vorüber. Marie klemmte ihre Tasche fester unter den Arm und lief zum Ausgang des Friedhofs. Innerhalb von zwei Jahren war es die dritte Jugendfreundin, die sie auf ihrem letzten Weg begleiten musste. Wieder hatte sie eine Kindheitsbegleiterin verloren. Marie hatte das durch eine Zeitungsannonce erfahren. Morgens beim Frühstück ging sie alle Seiten der Zeitung durch, weil sie wusste, dass ihr Interesse dafür abends erloschen sein würde. Und da entdeckte sie Margot Weber, ein Nachkriegsjahrgang, genau wie sie. Marie telefonierte noch am gleichen Tage mit der Mutter der Verstorbenen. „Es ging so rasch, so wahnsinnig schnell“, schluchzte die Frau ins Telefon, und Marie fragte nicht weiter. Das war ihr peinlich. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, denn eigentlich hatte sie bisher nicht viel mit dem Tod zu tun gehabt.
Marie hatte den Ausgang des Friedhofs erreicht. Für einen kurzen Moment kam ihr die Kindheit wieder näher mit all den Gefühlen, die sie damals mit den Freunden hatte. Sie waren Kinder mit einer unendlichen Zukunft. Ein jeder war ein Himmelstürmer, und sie jagten um die Wette die Lebensleiter hinauf. Und bei der Anstrengung des Kletterns verloren sie sich aus den Augen
Marie gelangte zu ihrem Auto und stocherte mit dem Schlüssel im Schloss herum. Immer, wenn sie es eilig hatte, klemmte das verhexte Schloss. Marie zog den Schlüssel nochmals vorsichtig heraus und versuchte mit viel Gefühl ihn wieder einzuführen und drehte ihn behutsam, und die Autotüre ließ sich öffnen. Der Motor heulte auf, und Marie fuhr mit jaulenden Reifen an, ein bisschen rasanter als üblich. Meistens fuhr sie wie der Teufel, wenn sie wütend war. Nun raste sie enthemmt mit dem Bewusstsein, noch mal davongekommen zu sein. Marie drehte das Radio an.
„I am what I am...“ quoll eine kraftvolle Altstimme aus dem Lautsprecher. Die vitale Stimme der Sängerin tat ihr gut. Marie sang lauthals mit, und sie horchte in ihren Gesang hinein, und sie fühlte die Kraft ihrer Stimme. Sie lenkte den Wagen auf eine Straße, die aus der Stadt hinausführte. Die Sonne stand hoch und ließ das Herbstlaub glänzen, und ein leichter Wind hielt die Bäume und Sträucher in Bewegung.
“I am what I am...“
Stark durchdrang die kehlige Stimme Maries Körper, verfing sich in ihrem Kopf, sackte ab in den Bauch, verursachte dort Hitze, wanderte in die Lunge, blähte sie auf und wurde mit einem kräftigen Luftstoß ausgepresst. Die Sängerin schwieg, ein Nachrichtensprecher setzte ein, und Marie drehte das Radio aus.
Die Trauergemeinschaft hatte sich in der nahegelegenen Gaststätte eingefunden, und der junge Witwer kippte einen Klaren herunter bevor er das Glas Bier ansetzte. Es wurden Platten mit kaltem Bratfleisch serviert, dazu einige Salate und die Gemeinschaft speiste, nicht ohne der Toten zu gedenken.
Marie bog in einen kleinen Feldweg ein, kletterte aus dem Auto, griff nach ihrer Tasche, dabei flatterte eine kleine Karte auf den Boden.
...möchte ich zur Raue einladen...
Ein Windstoß fegte die Karte unter das Auto. Marie schaffte es nicht, sich das Gesicht der Toten vorzustellen. Sie erinnerte sich an Gesten, an die Stimme, an die Gestalt, doch das Gesicht hatte sie vergessen.
Marie hielt ihr Gesicht in die Sonne und der Wind rupfte an ihren Haaren. Wie sich ihre Gedanken im Rhythmus des Windes zu bewegen schienen. Hatte sie nun eine Ahnung vom Leben? Oder gar vom Tod? Ach, wie friedlich der Tod ihr erschien, wie kämpferisch doch das Leben. Marie hatte als Kind und als Teenager nie recht kämpfen können. Sie wunderte sich, dass sie diese Lebensgrundlage noch hat erlernen können. Geh ein Stück durch die Hölle und du erreichst den Himmel, so die Worte eines ehemaligen Freundes. Warum dachte sie just in diesem Moment daran? Sie wusste, dass alle Menschen, früher oder später, diesen Weg zu gehen hatten.
Marie lief einen huckeligen Feldweg entlang, der auf eine Anhöhe führte, um dort in den Hof eines kleinen Anwesens einzumünden. Der Mais stand noch hoch und die Dolden waren zum Zerbersten. Marie hockte sich an den Rand des Feldes, und der Boden war feucht und roch herb. Marie nahm einen Stein und malte Zeichen auf den Weg. Sie gehorchte einem inneren Drang und sie malte viele Rechtecke, und zuletzt hatte sie einen Friedhof gemalt. Marie weinte. Ihre Augen brannten, und die Luft stank beißend. Ein leichter Wind ließ die Blätter des Maisfeldes rascheln, und Marie hustete, und ihr Hals war wund, und sie hatte den Geschmack von Säure auf der Zunge. Sie schaute den Hügel hinunter zum grünen Flusstal, das sich fast unberührt ländlich durch die Großstadt schlängelte.
Marie knibbbelte mit den Augen, ihre Schminke war verlaufen, und sie wischte sich die Tränen mit den Tuschresten vorsichtig weg. In einiger Entfernung sah sie dicken Dunst über der Stadt, der sich in ihre Richtung zu wälzen schien. Marie hustete nun stark und sie hielt sich ein Tempotuch vors Gesicht. „Verdammt! Was nun? Was soll ich jetzt tun?“ flüsterte sie. Sollte sie nun zum nahegelegenen Gehöft rennen oder zu ihrem Auto? Marie rannte den Berg hinunter und die Tränen liefen, und der Hals tat vom Husten weh. Weit und breit war niemand zu sehen, und Marie dachte an die Beerdigung und daran, dass sie mit dem Auto schneller sein muss, als die Giftgaswolke. Marie setzte sich ins Auto und bekam ein paar Atemzüge giftfreie Luft in die Lunge. Marie fuhr zügig in Richtung K.. Sie fuhr weg von M. und weg von der ätzenden Wolke.
Was wäre, wenn sie über den Hügel hätte laufen müssen und weit und breit keine Möglichkeit zur Flucht bestanden hätte? Marie spielte ein Spiel. Marie spielte ein Gedankenspiel:
Marie lief über den Hügel und hielt sich ein Tempotuch vor das Gesicht. Sie spürte die Säure auf der Gesichtshaut. Ihre Nasenlöcher schmerzten und der Hals war weit hinten zum Kehlkopf hin rauh. Sie kniff die Augen zusammen, doch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Marie sah in der Ferne ein Haus, und sie rannte darauf los. Sie war es nicht gewohnt, mit hochhackigen Schuhen zu rennen und knickte einige Male um. Sie geriet außer Atem und schnappte heftig nach Luft, und ihr Hals brannte, und der Schmerz drang tiefer in sie ein. Marie lief jetzt betont langsam, um ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie erreichte das Haus und sie lief zur Türe. Sie setzte ihren Zeigefinger auf den Klingelknopf. Sie zog ihn blitzschnell zurück. Und Marie spielte. Marie spielte ein Spiel. Marie spielte ein Gedankenspiel.:
Jemand öffnete die Türe. Jemand zog sie ins Haus. Sie gewahrte einen Glatzköpfigen mit Oberlippenbart und stechendem Blick. Drinnen roch es nach Kohl und Schweiß. Marie wurde in ein kleines Zimmer gestoßen, in dem sich an der rechten Wand vier Fernsehapparate aneinanderreihten. In zwei Apparaten liefen jeweils verschiedenen Programme. Der Glatzköpfige ging hin und stellte einen dritten Apparat an.
„Setzen!“ brüllte er.
Marie nahm in einem alten Korbstuhl Platz und ihr gegenüber flackerte das Bild des dritten Fernsehapparates. Marie sah, wie der Glatzköpfige an einem Videogerät herumhantierte. Nun lief ein Film über das Sezieren eines menschlichen Körpers. Wie man die einzelnen Gliedmaßen abtrennt, um sie dann im Verlauf der weiteren Szenen zu Wurstwaren zu verarbeiten. Marie schaute schnell zu den anderen Geräten, in denen ähnliche Szenen abliefen. Sie schloss die Augen. Der Glatzköpfige stieß sie an und brüllte:
„Hinsehen!“
„Ich möchte wieder gehen“, flüsterte Marie und stand auf. Sie wurde wieder auf den Korbsessel geworfen.
„Warum tun Sie das“? fragte sie.
Drei Programme liefen ab. Drei Lautsprecher waren auf eine unerträgliche Lautstärke eingestellt. Marie sehnte sich nach dem Gestank, dem sie zuvor zu entrinnen versuchte.
Marie beendete ihr Spiel. Ihr Gedankenspiel. Sie hatte K. erreicht. Sie parkte ihr Auto in einer kleinen Seitenstraße. Von dort konnte sie leicht die City zu Fuß aufsuchen. Sie öffnete die Wagentüre, und die Luft roch nach Erde und Wasser des nahegelegenen Flusses. Wann würde der Gestank auch dieses kleine Städtchen durchziehen? Marie wusste, dass man im Leben Glück haben muss. Marie wäre gerne nach Hause gefahren. Sie würde bis abends in Cafés herumhocken, mit Leuten sprechen, an ihrem Cappucino nippen. Dann würde sie die Nachrichten im Autoradio hören und sich auf den Weg nach M. machen. Es würde dann egal sein, was immer auch passieren mag, sie wollte abends zu Hause sein.
Marie spielte ein Spiel. Ein Gedankenspiel:
Marie war auf der Flucht. Außer dem Auto, der Handtasche mit den Papieren und der Kleidung am Körper hatte sie nichts dabei. Marie sah Prozessionen von Flüchtenden. Eine gespenstische Szene, und sie erinnerte sich an Dokumentarfilme ihrer Schulzeit. Auf allen Kontinenten gab es zu jeder Zeit Fliehende. Marie hatte sie jetzt noch in der Tagesschau im Fernsehen gesehen. Dabei saß sie mit überkreuzten Beinen auf der Couch. Ab und zu aß sie oder schlief auch ein. Marie hatte sich an die Bilder gewöhnt. Wenn es zu grausam wurde, wenn Kinder oder Tiere gequält wurden, dann schloss Marie die Augen und zwinkerte, um sich zu vergewissern, ob sie wieder hinschauen konnte.
Nun reihte sich Marie in das Heer der Fliehenden ein. Es war nicht der Krieg, der zur Flucht zwang, es war keine Naturkatastrophe, es war eine Zeiterscheinung, eine ‘Umweltkatastrophe’ wie man so sagt. Marie steckte in einer Autokolonne. Sie hatte ihre Fenster und Lüftungsschlitze fest geschlossen. Die Luft im Wageninneren war verbraucht. Marie wurde müde und gähnte häufig. Sie wusste, sie hatte keine Chance mehr. Sie stand eingezwängt in der sich ständig verlängernden Autoschlange. Sie hielt sich die Ohren zu, denn das Gehupe einiger Panikbesetzter wurde unerträglich. Gedankenspiele?
Es läuft, wie’s läuft...
Marie mochte diese Gedankenspiele nicht mehr. Sie trank viel Kaffee, aß mehrere Stücke Kuchen und verbrachte ihren Nachmittag in dem Café, von dessen Fenster sie das Flusstal überblicken konnte. Die Wiesen zeigten ein angenehmes Grün, der Fluss kräuselte sich rasend schnell und zeigte eine blaugraue Farbe und schien recht gesund. Der alte Baum im Vordergrund am Wege, der zum Fluss hinunterführte, hatte seine Blätter schon verloren, doch sein starkes Gerüst wirkte urwüchsig vital. Vielleicht würde er Marie überleben. Er stand dort schon seit sie sich erinnern konnte. Für Marie war er so etwas wie die Ewigkeit. Marie würde es nicht ertragen, ihn sterben zu sehen. So dachte Marie.
Abends dann, als sich die Silhouette des Baumes wie ein Scherenschnitt schwarz gegen den dunkelgrauen Himmel abzeichnete und man gesund kaum von krank unterscheiden konnte und nur noch die Bewegung des Flusses erahnt werden konnte, da fuhr Marie nach Hause. Sie fuhr mit geschossenen Wagenfenstern und Lüftungsschlitzen. Sie fuhr sehr schnell. In ihrer Heimatstadt waren die Straßen leergefegt. Marie bog in ihre Straße ein, und einige Fenster der angrenzenden Siedlungshäuser waren erleuchtet. Marie war erleichtert. Als sie vom Auto zur Haustüre lief, atmete sie nicht. Und als sie in ihrer Wohnung war, ging sie durch die Räume und überprüfte ihre Fenster. Auch diesmal hatte sich ihre Gewissenhaftigkeit bewährt. So konnte sie die Nacht in reiner Zimmerluft verbringen.
Und morgen? Marie hielt ihre Gedanken in Schach, denn dazwischen lag erst einmal die Nacht.
Und dann? Was ist dann? schlichen sich weitere Gedankenteufel ein und versackten im Getriebe des Gleichmuts.
Es läuft halt, wie’s läuft...
Gespenstische Momente - es läuft, wie’s läuft
von Monika Laakes
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- Autorin/Autor: Monika Laakes
- Prosa von Monika Laakes
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Krimi, Thriller, Action
Kommentare
Ja, so ist es - hoffentlich läufts auch mal gut.
LG Alf
Stark mit Gedanken hier gespielt!
Der Leser bleibt dabei - und fühlt ...
LG Axel
Großartig ....
Ganz langsam, ganz subtil baust Du die Spannung auf und Deine Geschichte geht unter die Haut. Im ersten Drittel erwartet der Leser noch ein anderes Ende. Sehr geschickt geschreiben.
Herzliche Grüße,
Susanna
... das fesselt ...
Mit Euren Kommentaren scheint die Sonne noch intensiver, und das am 1. April. Kein Scherz. Deshalb schick ich mein Dankeschön auf einem Sonnenstrahl mit Lichtgeschwindigkeit zu Euch. Hurra, hab den Frühling beim Wickel genommen, damit er nicht entwischt. An Alf, Axel, Alfred, Susanna und noe´ liebe Grüße von Monika
Sehr fesselnd geschrieben!
Liebe Grüße,
Angélique
Dankeschön, liebe Angélique.
Dein Kommentar tut gut.
Sonnige Frühlingsgrüße von Monika
Huch. Aus den Tiefen des Portals tauchte die Geschichte plötzlich auf. Staun.
Ganz lieben Dank an Alfred M. für Deinen lebendigen Kommentar. Freu!
Und auch für den Klick, der die Story geweckt hat, ein Merci an Axel.
LG Monika