Seit einigen Wochen fällt mir, wenn ich aus meinem Küchenfenster hinaus auf die Straße sehe, ein eigenartiger Mann auf. Während Autos heranbrummen, halten, Leute aus- und einsteigen, beobachte ich die Veränderung der Tage. Sie werden allmählich freundlicher und wärmer. Es wird allmählich Frühling in Perg.
Der Mann, der mein Interesse geweckt hat, kommt jeden Tag vorbei, er sieht immer gleich aus. Seine Haare hängen lang und zottig, wie zerzaustes Gefieder von dem sonnengegerbten Schädel herab. Er trägt einen langen Stoffmantel, der wie Leder wirkt.
Seine Gangart ist merkwürdig gehetzt, von unregelmäßigen ängstlichen Kopfdrehungen belastet. Mir kommt es so vor, als würde der Mann einem geheimnisvollen Auftrag, einer Art Besessenheit folgen. Beharrlich tappt der Fremde durch den Rinnstein der Straße. Er könnte ebenso auf dem Bürgersteig gehen, es wäre bequemer für ihn. Er tut es aber nicht, scheinbar zwingt ihn irgendetwas dazu, sich so zu verhalten. Von Zeit zu Zeit bückt sich der Wanderer nach Etwas, hebt dieses Unbekannte behutsam aber äußerst schnell vom Boden auf und steckt es in seine Plastiktüte hinein. Dieser Beutel ist zu einem Viertel gefüllt – womit, das kann ich nur ahnen.
So manches Mal stehe ich in den letzten Tagen, neugierig geworden, am Fenster meiner Wohnung in der Hauptstrasse und verfolge das merkwürdige Tun des Mannes. Seltsam ist, dass dieser – so nenne ich ihn – Stadtsammler immer von links in mein Gesichtsfeld rückt und rechts daraus entschwindet. Es ist wie eine Filmsequenz von cirka zwei Minuten Dauer. In dieser kurzen Zeit hat er sich so sechs bis acht Mal gebückt und irgendwelche kleinen Dinge aufgehoben, die dann in der Tiefe seiner Plastiktüte verschwinden.
Was sucht und findet dieser Mann nur?
Vielleicht findet er aber nicht wirklich, weil er gar nicht sucht. Es ist möglich, dass er nur das aufhebt, was zufällig auf der Straße in sein Blickfeld rückt. Dinge, die einfach auf den Gehsteigen der Stadt herumliegen und die keiner mehr haben will.
Vielleicht sind es aber auch einstmals abgeschlagene, mittlerweile gerundete Stadtsteine. Oder glasige bunte Steine. Kleine kantige Fragmente einer alternden Stadt. Bruchstücke, die der Zahn der Zeit unmerklich aus den Mauern der Häuser und aus den Straßen herausgelöst hat. Steinern gewordene Fragmente aus den brüchigen Leben der Stadtmenschen. Harte auskristallisierte Seelensteine, die einstmals Sinnesempfindung und Hoffnung waren.
Wenn diese Vermutung richtig wäre, würde der Mann, der wegen seiner Erscheinung von den Bewohnern als verwahrlost angesehen wird, einen recht wichtigen Beitrag für diese Stadt und der dort lebenden Menschen leisten. Der von der Gesellschaft verachtete, hebt sozusagen die kleinen Brösel einer langsam stumpfsinnig werdenden, sich degenerierenden Stadt auf. Er legt die kleinen Teile sorgsam auf den Grund seiner Plastiktüte hinein und trägt sie fort in sein vermeintliches Heim.
Es scheint unglaublich, was dieser Mann für eine Arbeit vollbringt. Er trägt quasi Bruchstücke, die bröselige unkenntliche Auflösung seiner “geliebten“ Stadt heim. Und er wird Jahrhunderte mit dem Ordnen zu tun haben, wenn ihm nicht ein Krieg dazwischen kommt oder er normal sterblich sein wird – oder der Kapitalismus alles in seinen Klauen verdorben haben wird. Und alle anderen Menschen, vermutet er gelegentlich, sind auch bekümmerte Sammler, genau so wie er.
Sie sammeln Briefmarken, oder Gefühle, Schicksalsschläge, berauschende Stunden und das verlorene bisschen Glück, was wiederum andere Sammler auf der Straße der Vergänglichkeit liegen ließen.
Wenn sein Beutel am Abend, nach vielen gegangenen Kilometern, zwischen den sich hoch auftürmenden Häusern, gefüllt ist, geht er müde heim. Er ist dann ein wenig glücklich. Ein Hauch von Ruhe umgibt diesen Mann und sein Gehen ist schleichend, nicht mehr gehetzt. So ganz anders als zu der Zeit, wenn ich ihn beobachten kann.
Seine Beruhigung hält nicht sehr lange an, nur bis zu jenem Augenblick, wenn er den Beutel auf dem Boden ausleert. Dann beginnen die fieberhaften Bemühungen des Philosophen, die unzähligen kleinen Steine aus dem gehäuften Chaos auf dem staubigen Boden in eine Art höhere Ordnung zu sortieren. Das dauert dann noch mal viele Tage. Zwischendurch muss der Sammler aber weiter sammeln. Und oft verzweifelt der Mann, denn er findet nicht das Gesamtbild, das die Steine ergeben könnten. Bei dem Gedanken, dass Perg irgendwann nur noch sandiger Staub und Stein sein wird, fährt dem Manne Angst in die Knochen.
Wenn er doch nur einen Plan hätte, denkt er verzweifelt.
Und neue Hoffnungen zeigen sich zuweilen in kurzen Träumen, die er in seinem zerbrochenen Schlaf träumt. Dann sieht er hohe, saubere Häuser, die unbeschädigt sind, in denen heile Menschen wohnen. Er träumt von johlenden frohen Kindern mit glücklichen Eltern. Er träumt von Generationen, die gemeinsam unter einem heilen Dach vereint wohnen. Hart arbeitend am Stein – glücklich am Stein, gestorben am Stein irgendwann geworden zu Stein
Vor siebzehn Jahren waren die beiden Zimmer, in denen er haust, mit hellen Kinderstimmen erfüllt. Dann kam die Zeit, in der die Räume mit Flaschen angefüllt waren. Jetzt sind es überall Steine, die herum liegen. Geordnete Steinhaufen, die darauf warten, eine andere, eine neue und höhere, vielleicht verständlichere Ordnung zu bekommen.
Und so gehen meine kläglichen Vermutungen über diesen seltsamen Mann weiter, während ich ihn aus den Augen verloren habe. Eines aber scheint klar – die Stadt mag für den Mann eine wahre Fundgrube zu sein.
Der Sammler
von Bernhard W. Rahe
Bibliothek
Mehr von Bernhard W. Rahe lesen
Interne Verweise
- Autorin/Autor: Bernhard W. Rahe
- Prosa von Bernhard W. Rahe
- Prosakategorie und Thema: Experimentelles / Sonderfälle, Kurzgeschichten & Kurzprosa