Gefährlicher Sommer (Teil 31; Text 2)

Bild von Annelie Kelch
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Reigen – die Liebe hält manchmal
im Löschen der Augen ein,
und wir sehen in ihre eignen
erloschenen Augen hinein.

Kalter Rauch aus dem Krater
haucht unsre Wimpern an;
es hält die schreckliche Leere
nur einmal den Atem an.

Wir haben die toten Augen
gesehn und vergessen nie.
Die Liebe währt am längsten
und sie erkennt uns nie.
(Ingeborg Bachmann; „Reigen“)

Zurück auf Lachau …

Ich stand plötzlich mitten im Krankenzimmer, darin sich vier Betten befanden. Tante Selma hatte sich hastig verabschiedet. Die Sorge um den Briefträger, dessen Anblick Tom genügte, um seine Beißlust anzufachen, hatte sie veranlasst, die Klinik Hals über Kopf zu verlassen.

Der Gutsverwalter hing noch an zwei Schläuchen; er schien sehr blass, fast durchsichtig, und seine dunklen Haare verstärkten diesen Eindruck ganz erheblich, aber ein Blick in seine Augen bestätigte mir, dass er ganz der Alte geblieben war, von einem Explosionstrauma, wie es nach Schussverletzungen bei manchen Betroffenen auftritt, keine Spur.

Er schien sich über meinen Besuch aufrichtig zu freuen, obwohl man nicht gerade behaupten kann, dass ich mich in den vergangenen Ferientagen ihm gegenüber sonderlich entgegenkommend gezeigt hatte.

„Sind die Blumen für mich, Katja?“, fragte er mit einem Augenzwinkern. „Eine Vase findest du in der Küche, rechts den Flur hinunter, vier, fünf Türen weiter.“

„Guten Tag, Herr Kröger“, fiel mir endlich ein. „Ich freue mich, dass es Ihnen wieder einigermaßen gut geht. Bin gleich zurück.“
Eine junge Schwester, kaum älter als ich, drückte mir eine Vase in die Hand, und ich kehrte zu Kröger zurück, um die Gazanien ins Wasser zu stellen und mich an sein Bett zu setzen. Mein Herz schlug fast wieder normal, liebe Christine.

„Schön“, sagte Kröger, nachdem ich die Vase auf seinen Nachttisch gestellt hatte, „sie leuchten wie kleine Sonnenblumen.“

„Import aus Afrika“, klärte ich ihn auf.

„Und du warst heute Morgen bereits im Kuhstall zum Ausmisten?“

„Ja“, gab ich zu. „Damit die Kühe ihre Eier wieder ins Frischstreu legen können.“

Kröger grinste mich an, als hätte ich einen Freudschen Fehler von mir gegeben. Ich zog meine Augenbrauen hoch.

„Netter Gag, Katja“, sagte Kröger. „Weshalb nicht stattdessen Hühner melken. Das könnte sogar Leni bewältigen, und wir würden die elende Melkmaschine verschrotten lassen.“

„Bitte, was habe ich gerade gesagt?“, erkundigte ich mich stammelnd.

„Dass die Kühe nun wieder mit voller Kraft Eier legen können“, lächelte Kröger.
„Das sollte kein Gag sein, Herr Kröger; das war lediglich ein Freudscher Versprecher, wie Sie, Ihrem Grinsen nach zu urteilen, längst vermutet haben“, klärte ich ihn auf. „Ich habe wahrscheinlich die frische Kuhscheiße verdrängt, die zwischenzeitlich gewiss schon wieder überall rumliegt. Das Ausmisten der Rinderställe ist eine echte Sisyphusarbeit.“

„Und wie geht es meinem Hannes, meinem Filius?“

„Wir nehmen ihn in die Pflicht. Darüber hinaus macht er sich eifrig Gedanken darüber, wie man Kuhställe zeitsparender ausmisten könne – nachdem ich ihn auf Herkules aufmerksam gemacht habe, der die versifften Rinderbuchten des Königs Augias von Elis durch zwei Flüsse gereinigt hat, die er kurzerhand durch den Mist fließen ließ." Kröger lachte schallend und hielt sich die Rippen, als ob auch sie schmerzten und nicht nur sein rechtes Bein.

„Gudrun steht übrigens bereits auf dem Lübecker Wochenmarkt. Kora hat in aller Frühe drei Riesenkörbe mit Hühnereiern eingesammelt. Das Gut liegt uns allen sehr am Herzen. Die Gnädigste wollte bereits verpachten, samt Wald und Flur. Möglicherweise hätten Sie dann Ihren Job verloren, meine Großeltern ihr Zuhause und Christine und ich unser Ferienparadies, von Ulla mal ganz zu schweigen.“

„Und Helge wüsste nicht, wohin … wenn seine Knastzeit abgelaufen ist“, ergänzte Kröger, was mich einigermaßen erstaunte.

„Sofern er überhaupt jemals in den Knast wandern wird“, erwiderte ich. „Meines Wissens befindet er sich immer noch auf der Flucht.“

„Nicht mehr lange“, sagte Kröger. „Interpol ist eingeschaltet. Ich habe kurz vor meiner Schussniederlage mit Kommissar Fuchs gesprochen. Er wird mich heute Nachmittag besuchen, dann erfahre ich Neues.“

„Ich soll Sie von Kora, Konny, Hannes, Oskar und Leni grüßen“, fiel mir zum Glück noch ein. „Und Konny lässt fragen, ob es Ihnen recht sei, dass er die Buchhaltung fortführt, anderenfalls würden Sie sich später kaum noch zurechtfinden. Außerdem wäre der Zeitaufwand enorm.“

„Gerne“, stimmte Kröger mir zu, „ich vertraue Konny in dieser Hinsicht voll und ganz und danke ihm schon jetzt ganz herzlich für seine Hilfe. Auch dir, Katja. Dass du nach Lachau zurückkehren könntest, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, nachdem Selma heute Morgen mit dieser Neuigkeit herausgerückt ist. Nach dieser guten Nachricht wollte ich eigentlich nur noch schlafen, aber dann bist du höchstpersönlich hier erschienen …“

„Ich gehe gleich wieder“, sagte ich erschrocken und sprang vom Stuhl auf.
„Ich wusste ja nicht ...“

„Nein, bitte nicht, bleib noch ein bisschen“, fiel Kröger mir hastig ins Wort. So habe ich es nicht gemeint. Ganz im Gegenteil. Wie lange bleibst du auf Lachau?“

„Bis ein zuverlässiger Aushilfsknecht gefunden ist, der seine Vorstellung, was den Lohn betrifft dem, was unserer Gnädigsten vorschwebt, anpasst. Konny, Hannes und Kora könnten dann die restliche Arbeit nach der Schule auch ohne mich schaffen. Außerdem ist ja auch noch der gute Oskar auf dem Hof anwesend ...“

„Womit beschäftigt er sich momentan …?“, wollte Kröger mit zweifelnder Miene wissen.

„Hauptsächlich mit dem gewaltlosen, passiven Widerstand, was Arbeit betrifft“, grinste ich. „Nein, er hilft Leni beim Kochen und Abwaschen.“

„Ach nee“, sagte Kröger. „Das konnte Leni bislang doch immer ganz alleine. Möglicherweise aber hat Oskar bereits das Nirwana erreicht, und seine Lebensbegierde ist vollkommen erloschen.“

„Dafür frisst er entschieden zu viel“, griente ich. „Aber Leneken kann nun mittags etwas länger schnarchen“, schickte ich sogleich hinterher.
„Viel scheint sich auf Lachau ja nicht verändert zu haben, seit ich mich ins Krankenhaus zurückgezogen habe ...“, schmunzelte Kröger.

„Außer, dass Konny, Kora, Hannes und ich schuften wie in manchen deutschen Wohnzimmern die Braunschen Kathodenstrahlröhren in den Fernsehgeräten. Ich sollte jetzt wirklich gehen, Herr Kröger. Gudrun wartet sicher schon auf mich. Ich wollte ihr beim Verkauf der Eier helfen. Und nach dem Mittagessen, das Leni hoffentlich für uns warmhält, sofern Oskar etwas übrig lassen sollte, müssen wir das Heu auf den Wiesen neben der Pferdekoppel wenden.“

„Oh“, sagte Kröger. „Das ist eine sehr anstrengende Arbeit, Katja. Ich mag gar nicht an den Muskelkater denken, der dich danach garantiert plagen wird.“

„Das hätten Sie gut und gerne für sich behalten können, Herr Kröger“, ließ ich ihn etwas unwillig wissen. „Dann folge ich doch viel lieber Schopenhauer, der der Meinung war, dass das Weltgeschehen zwar durch einen Trieb, dem Willen nämlich, gesteuert sei, dies aber völlig sinnlos wäre. Weshalb also dann das dämliche Heu wenden?“

„Man kann seiner Meinung nach aber diesem Leid entrinnen durch Askese und tätiges Mitleid“, erwiderte Kröger. „Also hab Erbarmen mit den Pferden, die dringend auf Futter und Streu angewiesen sind und wende dieses verdammte Heu; ich werde den ganzen Abend an dich denken.“

„Zu viel der Güte“, sagte ich, stand auf und gab ihm zum Abschied die Hand.

„Kommst du nochmal vorbei, bevor du nach Hause fährst“, fragte er, nachdem ich bereits die Türklinke hinuntergedrückt hatte.

Ich war sehr geneigt, „ja“ zu sagen, liebe Christine, aber über meine Lippen kam der schnöde Satz: „Möglicherweise, ganz gewiss jedoch komme ich nächstes Jahr wieder.“

„Alle Jahre wieder ...“, witzelte Kröger. „Ich freu mich drauf.“

Und schreib mal – mir persönlich. Nicht nur schöne Grüße bestellen über deine Großeltern oder Frau Brandner“, hörte ich ihn noch flüstern. Ich würde mich über einen Brief von dir sehr freuen.“

Ich winkte ihm zu und schloss leise die Tür.

Fortsetzung folgt Anfang nächster Woche.

Interne Verweise

Kommentare

07. Mai 2018

Auch ohne Action - da passiert viel!
Der Leser ist und bleibt dabei - mit Stil ...

LG Axel

07. Mai 2018

Dank, lieber Axel, Dir, für Deinen Kommentar; der nett und gut:
Das macht zum Weiter- und Zuendeschreiben mir viel Mut.

LG Annelie

07. Mai 2018

Flott und bildhaft geschrieben, lebendige Dialoge mit Witz, Szenen aus dem Lüneburger Leben, liebe Annelie, nachdem ich mehrere Folgen las, möchte ich nun doch mal fragen: Wird das ein Buch?
Dann gutes Gelingen und herzliche Grüße, Monika

07. Mai 2018

Dank Dir, liebe Monika, für Deinen lobenden Kommentar und die guten Wünsche. Ja - und das Buch ist bald zu Ende. Es folgen noch ein normaler Text und ein Nachwort in Form einer weiteren Textfolge, also durchaus unterhaltend und quasi das vorangegangene Erlebte weiterführend, von Christine nämlich, die in jenen Ferien nicht nach Lachau kommen konnte, weil sie sich in der Schule das Sprunggelenk gebrochen hatte.

Liebe Grüße zurück,
Annelie

07. Mai 2018

Die Collage wieder äußerst pfiffig und der Fortsetzungstext spannend, doch die Verbindung zu dem Bachmann Gedicht verstehe ich nicht ---

liebe Grüße - Marie

07. Mai 2018

Liebe Marie, danke für Deinen lobenden Kommentar und die Kritik. Kröger und Katja verbindet etwas, das man eventuell "Liebe" nennen könnte. Im Prolog, dessen Inhalt Du verständlicherweise bereits vergessen hat, so ist das meistens bei Serien, habe ich angedeutet, dass beide nach Australien auswandern, um dort eine Farm - Rinderzucht - zu bewirtschaften. Was ich noch nicht geschrieben habe, ist jedoch die Tatsache, dass Katja die Ställe dort nicht mehr ausmisten muss. So etwas wie "Liebe" und Nächstenliebe (nicht allein hinsichtlich Fauna und Flora) hat Katja dann ja auch zum Gut zurückgetrieben. Hoffentlich war das auch Australien und nicht Amerika - wie Du siehst, hat sogar die Verfasserin dieses langen Textes ihren "Anfang" vergessen. Und ist das Gedicht von Ingeborg Bachmann nicht ganz hervorragend, liebe Marie?

Liebe Grüße zu Dir,
Annelie