Kalter Frühling

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von Annelie Kelch

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Kalter Frühling

Diese Zeilen, möglicherweise die letzten, die ich zu Papier bringe, werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur mit einem flüchtigen Blick streifen, bestenfalls überfliegen, bevor Sie ungeduldig weiterblättern in jenem Buch, dessen Herausgeber sich meiner Erzählung erbarmt hat; aber seien Sie unbesorgt: Es wird nicht lange dauern, bis Sie fündig werden und er Ihnen ins Auge springt und Sie in seinen Bann zieht, jener magische erste Satz, der nur darauf wartet, Sie in das Herz der Geschichte zu entführen. Reglos steht er am Anfang einer Seite, standhaft wie Zinnsoldaten jede einzelne Silbe, und treibt Ihren Adrenalinspiegel mächtig in die Höhe; und Sie werden gar nicht anders können, als sich die Story einzuverleiben, in einem Zug: vom ersten Wort bis zum womöglich bitteren Ende, als zögen Sie während einer kurzen Arbeitspause vor dem Portal einer Anwaltskanzlei hastig an einer Zigarette, derweil Sie das Gefühl nicht verlässt, dass es in Ihrer Sprache kaum noch Wörter gibt, die während der letzten Stunden nicht über ihren Monitor geflattert wären.
Fast hätten mich meine Gedanken an Ihr Verlangen nach der perfekten Lektüre, von der Sie erwarten, dass sie auf Sie zugeschnitten ist wie ein feiner Maßanzug, doch tatsächlich abgelenkt von den Widrigkeiten, die über mich hereingebrochen sind. Diese Zeilen, das wollte ich Ihnen vorab lediglich mitteilen, schreibe ich auf dem Krankenbett. Meine Frau Lydia und ich haben das letzte Geld von unseren Konten abgehoben und sind in die Schweiz gereist. Die Ärzte hier im Spital geben sich alle Mühe, mich alten Mann am Leben zu erhalten, obwohl ich mich selbst längst aufgegeben habe. Das Atmen fällt mir von Tag zu Tag schwerer. Ich leide an einer seltenen Lungenkrankheit und habe allerhöchstens noch ein halbes Jahr zu leben. Von meinem Fenster aus kann ich die Berge sehen. Dort hinauf werde ich es nimmermehr schaffen. Lydia hat sich im Tal ein Zimmer gemietet und leistet mir tagsüber Gesellschaft, und nachts ... nachts schreibe ich. Das wollte ich immer schon, obwohl es jetzt fast zu spät dafür ist; aber ich habe meinen Freunden versprochen, jenes Ereignis, das sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen hat und wovon zu berichten mir große Qualen bereitet, niederzuschreiben. Qualen nicht zuletzt deshalb, weil es sich als dunkles Geheimnis in eine Handvoll Menschenseelen eingrub und dort über Jahrzehnte hinweg lebendig blieb. Was mir keine Ruhe lässt und das Herz so unendlich schwer macht, dass ich mir in meinem kritischen Zustand noch die Mühe mache es ans Licht zu bringen, liegt siebzig Jahre zurück. Zunächst jedoch muss ich auf jenen Abend zurückkommen, der den Stein ins Rollen brachte.
Damals saß ich mit fünf Kollegen, wir hatten uns über eine Annonce im Anwaltsblatt kennen gelernt, bei einer Heidelbeerbowle in der Bibliothek unseres ältesten Gefährten, dessen Kanzlei in L. lag. Es war unser achtes Treffen. Wir kamen jeden zweiten Monat zu einem Gedankenaustausch zusammen. Dabei ging es ausschließlich um berufliche Themen; private Dinge kamen eher selten zur Sprache. Wir waren bedächtig, wollten uns langsam näher kommen. Deshalb hatten wir unsere Frauen von den Gesprächen vorerst ausgenommen, planten jedoch in naher Zukunft eine gemeinsame Schiffsreise nach Stockholm.
Ich war an einem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe in meinem Heimatort S. aufgebrochen, um vorher bei meinem Bruder vorbeizuschauen, der in einer Kreisstadt unweit meines Reiseziels lebte. Ich wollte ihn überraschen; aber als nach wiederholtem Klingeln an der Haustür niemand öffnete, nahm ich an, dass er das herrliche Wetter zum Anlass genommen hatte, das Wochenende in seiner Ferienhütte im Taunus zu verbringen, und weil es für den Besuch bei meinem Freund Leo noch zu früh war, beschloss ich, die Innenstadt aufzusuchen, um dort irgendwo einen Kaffee zu trinken. Es lag bereits eine Weile zurück, dass ich mich in der City aufgehalten hatte, ich meine, so an die zehn Jahre, und ich hielt vergeblich Ausschau nach der Konditorei, worin Lydia und ich früher Einkehr hielten, bevor wir meinen Bruder aufsuchten. Der Stadtkern hatte sich in einem Maße verändert, dass ich ihn kaum wiedererkannte. Die kleinen Läden waren sämtlich verschwunden, sogar größere Drogerien und Restaurants hatte der Fortschritt einkassiert. Um es kurz zu machen: Das Herz der City war steril wie vor, oder sollte ich besser sagen: wie nach einer Operation? - Weder Menschen noch Grünflächen lockerten das in doppelter Hinsicht versteinerte Stadtbild auf. Eine graue Skulptur, die vis-a-vis eines Mega-Kaufhauses stand, hob sich kaum von ihrer Umgebung ab, und mir kam der Gedanke, dass es in dieser Geisterstadt gewiss auch keine Spinnweben mehr gebe, und noch während ein Gefühl des Bedauerns in mir hochkroch, begann mein Herz zu rasen, weil ich mich jäh an ein Ereignis gemahnt fühlte, das weit in der Vergangenheit lag. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass mich die Erinnerung an jenes Geschehen das ganze Wochenende hindurch nicht mehr loslassen und in eine tiefe Krise stürzen sollte.
Es war schon spät, wir diskutierten ein Urteil, das kürzlich in einem Aufsehen erregenden Strafprozess ergangen war, als Leo herzhaft gähnte und verlauten ließ: „Verzeiht, Freunde, aber die Debatten ermüden mich heute. Daran ist gewiss der Frühling schuld, der in der Luft liegt. Aber mich würde jetzt wirklich mal interessieren, weshalb ihr Anwälte geworden seid. Das kann doch nicht allein am Numerus clausus gelegen haben, der zu unserer Zeit noch keine wirkliche Hürde war.“ Er lächelte schelmisch.
„Ich kenne durchaus Kollegen, die den Numerus clausus zum Anlass genommen haben, Jus zu studieren, und einige davon machen vor Gericht nicht die schlechteste Figur“, meldete sich Arnold, der Jüngste in unserem Kreis, zu Wort und fuhr fort: „Was mich betrifft, war der Anlass meiner Berufswahl keinesfalls weniger banal. Der Vater eines Schulkameraden, der zuweilen mit mir den Sportunterricht schwänzte, war Anwalt, und Ulf, so hieß der Sportverächter, zeigte mir damals unter dem Siegel der Verschwiegenheit einen Schriftsatz, der beim Landgericht eingereicht werden sollte. Es handelte sich dabei um die Klageschrift in einem Scheidungsprozess, und ich war fasziniert von der Wortgewandtheit seines Vaters, der als Prozessbevollmächtigter des Klägers legitimiert war. Ulf wurde mein bester Freund, und wir hielten uns oft in der väterlichen Kanzlei auf. Leider ist er nach Abschluss seines Studiums in die Staaten ausgewandert.“
„Was hat

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