Kalter Frühling - Page 3

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

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nichts. Stell das Gewehr zurück. Es gehört Linus, der mit dem, was du damit im Schilde führst, ganz und gar nicht einverstanden wäre.'
'Misch dich nicht in meine Angelegenheiten, Ada', zischte Falk. 'Was sich in deiner Scheune herumfläzt, sind keine Menschen, waren keine Menschen und werden niemals welche sein; das sind allenfalls ‑ Spinnweben, nichts als Spinnweben! Heil Hitler!' Er lachte verächtlich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als sei dort etwas, dass er fortstreifen müsse. Dann knallte er die Hacken zusammen und ließ seinen rechten Arm vorschnellen. Tante Ada, die sich wie ein Posten vor der Außentür aufgebaut hatte, rührte sich nicht von der Stelle; aber Onkel Falk schubste sie grob beiseite und rannte aus dem Haus.
Wenige Minuten später fiel der erste Schuss. Tante Ada wurde leichenblass, eilte in ihr Schlafzimmer, riss die Nachttischschublade auf und förderte einen Revolver ans Tageslicht, den sie in die Tasche ihrer Kittelschürze schob. - 'Worauf wartet ihr noch?', fragte sie Mutter und mich, die betroffen im Flur herumstanden, und wir folgten ihr auf den Hof, wo sie mit festen Schritten geradewegs auf die Scheune zustapfte.
Wir hatten kaum das Gebäude erreicht, als der zweite Schuss fiel. Mutter und ich waren zu Tode erschrocken und hätten am liebsten das Weite gesucht, aber Tante Ada riss das Tor auf und stürzte in den Schober. Mir ist in Erinnerung, dass die Häftlinge Schulter an Schulter vor der weiß getünchten Rückseite der Scheune standen; ihre mageren Rücken, aus denen die Knochen durch den fadenscheinigen Stoff hervortraten, waren uns zugewandt, und Falk, den Finger am Abzug, feuerte ein drittes Mal. Der von der Kugel in den Kopf getroffene Häftling sank neben seinen toten Kameraden auf das blutgetränkte Stroh. Und dann, Lydia, geschah es, das Unfassbare, das Mutter und ich befürchtet und zugleich erhofft hatten: Tante Ada zog den Revolver aus ihrem Kittel, richtete ihn auf Onkel Falk und drohte: 'Entweder du verlässt auf der Stelle meine Scheune, oder ich knalle dich ab.'“
Lydia zog ihre Augenbrauen hoch.
„Oder ich knalle dich ab; ja, das hat Tante Ada gesagt, wortwörtlich“, wiederholte ich mit fester Stimme.
„Falk drehte gemächlich seinen Kopf herum und sah uns der Reihe nach an“, fuhr ich fort. Seine spöttische Miene ließ keinen Zweifel darüber zu, dass er Tante Adas Worte nicht ernst nahm. Mutter hatte zu weinen begonnen, und ich legte tröstend meinen Arm um sie. Falk hob erneut die Flinte und zielte auf den nächsten Häftling in der Reihe ‑ ein Schuss fiel, und gleich dem Gewehr glitt der stattliche, wohlgenährte Körper meines Onkels nahezu lautlos auf das Heu. Tante Ada hob die Flinte auf, warf sie in den Hof und drehte Falk auf den Rücken. Falk röchelte, und aus seinem Mund quoll ein dunkelroter Blutschwall. Mutter schrie laut auf, indes Tante Ada den fünften und letzten Schuss abgab, uns mit leeren Augen ansah und mit rauer Stimme sagte: 'Wegen der Qualen; damit er nicht leiden muss, mein armer Bruder.'
Die Häftlinge standen unverändert mit dem Gesicht zur Mauer. Keiner hatte gewagt sich umzudrehen. Tante Ada rief: 'Kommt her, Männer! Der Spuk ist vorbei!' Langsam drehte sich einer nach dem anderen um und schleppte sich zum Scheunenausgang. 'Schnell', sagte Tante Ada. 'Enzo wird bald zurück sein. Er darf Falk hier auf keinen Fall finden. Wir müssen seinen Leichnam verstecken.'“
„Du Ärmster“, unterbrach mich Lydia. „Das hast du all die Jahre mit dir herumgeschleppt? Wie hast du das bloß ausgehalten?“ ‑
„Tante Ada hat weitaus heftiger gelitten als ich, obwohl sie es niemals zugegeben hätte“, dämpfte ich Lydias Mitgefühl. „Weißt du eigentlich, dass jenes Kriegsdrama der Grund dafür war, dass ich Strafverteidiger geworden bin? - Natürlich nicht, liebe Lydia. Ich habe niemals mit dir darüber gesprochen, um dich mit diesen schrecklichen Dingen nicht zu belasten; aber ich fasste noch am selben Tag den Entschluss, Tante Adas Verteidigung zu übernehmen, falls man Falks Leiche vor ihrem Ableben aufspüren und diese tapfere Frau, die siebzehn Menschen das Leben gerettet hat, des Mordes überführen sollte. Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Falk alle Häftlinge umgebracht hätte.“ -
Lydia schüttelte ungläubig ihr weises Haupt. „Oh mein Gott, ist das alles furchtbar“, stammelte sie. „Furchtbar und wunderbar zugleich. Sag, wie ging es weiter, Gilbert?“
„Nun, wir versteckten Falks Leichnam und die der ermordeten Häftlinge im Heu und nahmen die restlichen Gefangenen mit ins Haus, wo Tante Ada sie bewirtete.
Enzo kam erst am späten Abend auf den Hof zurück. Er war von den Amerikanern abgeführt und verhört worden; aber keinem der Dorfbewohner war es eingefallen, ihn zu belasten; deshalb ließ man ihn wieder laufen. Die meisten Dörfler waren alte Nazis und hatten selber Leichen im Keller.
Enzo wollte Tante Ada dazu bringen, ein weißes Laken im Hof zu hissen, um unseren Willen zum Frieden kundzutun; eine solche Geste stimme die Amis versöhnlich, aber Tante Ada ließ sich auf „diesen Firlefanz“, wie sie es nannte, nicht ein. Sie habe nichts zu verbergen, gab sie ihrem Bruder zu verstehen und warf ihm einen scharfen Blick zu. Als Enzo sich nach Falk erkundigte, erklärten wir einmütig, dieser habe die Verfolgung dreier Häftlinge aufgenommen, die aus der Scheune in den Wald geflüchtet seien. Wir würden jeden Moment mit seiner Rückkehr rechnen. 'Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen', sagte Enzo, 'ich hab vor ‘ner Weile Schüsse gehört, die unweit des Dorfes abgefeuert wurden. So harmlos sind die Amis nun auch wieder nicht.'
Zwei Tage später, der Trubel um die Besatzer hatte sich bereits gelegt, begruben Tante Ada, Mutter und ich die getöteten Häftlinge und ihren Mörder, meinen Onkel Falk, im Park hinter dem Wohnhaus ‑ bei schwachem Mondlicht, wir mussten vorsichtig sein. Tante Ada pflanzte am nächsten Morgen Himbeersträucher auf die Gräber, die prächtig gediehen.
Am späten Vormittag kamen die Amis. Tante Ada servierte Apfelmost, und „unsere Häftlinge“ lobten uns über den grünen Klee. Einer der GIs erkundigte sich nach Falk, dem Ortsgruppenleiter, und Tante Ada erklärte, der werde schon irgendwann wieder auftauchen, Unkraut vergehe nicht. -
Mit den Worten: 'Die Amis lachten und ließen uns fortan in Ruhe',“ beendete ich meine Beichte und seufzte erleichtert auf. Lydia umarmte mich und wir saßen eine Weile festumschlungen und weinten.

In jener Nacht, Lydia und ich hatten uns kurze Zeit später schlafen gelegt, fand ich keine Ruhe und wäre am liebsten wieder aufgestanden und zum Borsig-Hof gefahren, den Onkel Linus und Tante Ada Falks jüngstem Sohn Glen überschrieben hatten. Einige Jahre später kam ich zufällig an jenem Anwesen vorbei und hielt Einkehr. Glen zeigte mir den Park; es war fast noch alles wie damals, sogar die Himbeersträucher standen noch an derselben Stelle, sofern es sich nicht um neue Pflanzen gehandelt hat, wonach ich mich nicht zu erkundigen wagte.

Lydia ist hinunter ins Tal, auf dem Weg zum Postamt, um den Brief mit meinem „Geständnis“ aufzugeben, jenes Kriegsgeschehen, das mein Leben nachhaltiger beeinflusst hat als alles andere. Leo, der eine Schwäche für solche Geschichten hat, wird versuchen, den Text irgendwo unterzubringen, und ich, nun ja, ich fühle mich erleichtert ‑ als wäre mir eine Zentnerlast von der Seele gefallen - und müde, ganz entsetzlich müde ...

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