Gefährlicher Sommer (Teil 12)

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von Annelie Kelch

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Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde,
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
(Johann Wolfgang von Goethe, „Ein Gleiches“)

Warte nur, balde ...

Während ich zum Schuppen flitzte, um Lenis Fahr­rad zu holen, fiel mir plötz­lich ein, dass ich nach meinen „kriminalistischen Recherchen“ noch an den Kiesteich fahren könn­te. Er lag ja nicht weit von der Jagd­kanzel ent­fernt. Ich lehnte das Bike an die Verandamauer, rannte durchs Herrenzimmer und preschte die Wendeltreppe hinauf, um meine Badesa­chen zu packen. Im Flur klappte eine Tür, und Sekun­den später tauchte Hannes auf dem Treppenab­satz vor mir auf. Ich hätte ihn fast umgerannt.
„Was machst du denn hier oben?“, fragte ich ver­wundert.
„Äh, i-i-ich sollte für meinen Vater die Autoschlüssel a-a-aus dem Jagdzim­mer ho­len“, stotter­te er. „Wir fahren do-doch gleich nach Lü­beck. Dann bis morgen, Katja.“ Hannes huschte scheu wie ein Wiesel an mir vorbei und die Treppe hinunter. Irgendwas war hier oberfaul.
Ich warf meine Badesachen in die meergrüne Basttasche, die Oma Anita eigens zu diesem Zweck gehäkelt hatte. Dabei fiel mein misstrauischer Blick auf den runden Tisch, auf welchem ich die Briefe von dir und Harry deponiert hatte, liebe Christine. Ich wusste zwar nicht mehr genau, an welcher Stelle sie sich befanden, als ich das Zimmer heute Mittag verließ, wurde je­doch das Gefühl nicht los, dass sich jemand erdreistet hatte, in meinen Sachen herumzuschnüffeln.
War Hannes etwa in meiner Kammer gewesen? So eine Frechheit! Aber sollte ich mir darüber auch noch Gedanken machen? – Nein, das ist die Sache nicht wert!, beschloss ich. Schließlich rief der Lachauer Forst, und das war wich­tiger als alles andere. Ich schwang mich auf Lenis Fahrrad und fuhr in den glühenden Tag hinaus. Dieser Ferien­nachmittag war eine Wucht, zumin­dest was das Wetter anging. Lieblicher konnte er gar nicht daherkom­men: Die Sonne strahlte vom weiten blauen Himmel herab, darauf sich kleine weiße Wolkenkinder tummelten, und ver­teilte ihre war­men Strahlen auf das von Tannen umsäumte Dorf, das sich verträumt im Blues der sommerstillen Mittags­stunde wiegte und friedvolle Einsamkeit verström­te. Nicht die kleinste Brise lag in der Luft. Rechts und links des vor Hit­ze glühenden Asphalts der Dorfchaussee, die gemächlich ihren Weg durch die traumverlorene Landschaft ging, dehnten sich honiggelbe Weizenfelder. Frisch ge­mähte Wiesen verströmten den Duft der prallen Heubündel, die dort gelagert waren. Und hinter all dieser Herrlichkeit türmte sich die Silhouette des Lachauer Forstes, den ich in wenigen Minuten durchqueren würde.
Die flaumigen Schirme der Pusteblu­men schwirrten wie kleine Segelboote während einer Regatta im Luftmeer umher. Ein Stück weit vom Straßenrand entfernt, halb ver­borgen von Bäumen und Hecken, ruhten die weiß gekalkten, mit Stroh gedeckten Bauernkaten.
Hinter den Zäunen weideten Schafe und Stuten mit ihren Fohlen und rupften das sonnenver­senkte Gras und den roten Sauerampfer, der vereinzelt emporflammte. Kein einziger Hofhund kläffte; es war so still geworden, dass man das Zwitschern und Summen der kleinsten Lebewesen, die in den Bäumen und Büschen am Ackerrain umherwuselten, vernahm, und ich spürte gar den Hauch der bunten Schmetterlinge und Insekten, die vor meinem Gesicht auf und nieder gaukelten. Es roch betäubend nach Sommer, und nichts, aber auch rein gar nichts, störte die malerische Dorfidylle.

Trotz dieser vorübergehenden Weltentrückheit war Lachau alles andere als ausgestorben. Dafür strahlten die Sommerfarben viel zu lebendig. – Ich dachte die ganze Zeit an Harrys Brief, den Hannes vermutlich durchgeschnüffelt hat, Christine. Ich erzähle dir im nächsten Guts-Rapport, was drinsteht.

Von der Dorfchaussee bog ich in den schmalen Koppelweg, eine Abkürzung, die geradewegs zum Forst führt; er wird von Weiden flankiert, auf denen rot­bunte Milchkühe grasten, die zum Gutshof der Gnädigsten gehören: ein friedevolles Bild. Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Die Riesenenttäuschung, die Tante Agnes mir bei meiner Ankunft auf Lachau bereitet hatte, war auf dem besten Weg, sich in Luft aufzu­lösen, zumindest für eine Weile, liebe Christine. Rückblickend weiß ich: Das war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.
Mir kamen Hannes' Worte von gestern kurz in den Sinn: Wetten, dass Katja sich traut? –
Tatsäch­lich verspürte ich kein bisschen Angst. Ich fand es einfach herrlich im Gutswald! Er ist wirklich klasse durchforstet, und durch das weitmaschige Blätternetz dringt nach wie vor viel Sonnenlicht; trotzdem ist es angenehm kühl darin. Am besten gefallen mir die hunderjährigen Bäume, deren Kronen sich im Himmelsblau verlieren.
Auf den wenigen Kahlflä­chen wachsen Weidenröschen, und an den schattigen Stellen breitet sich der hellgrüne Sauer­klee wie ein prunkvoller Teppich aus. Ich radelte über die grünbemoosten Wege, sog die frische Waldluft und den zeitweilig kräftigen Harzgeruch ein, und genoss die wohltuende Stille, die ganz und gar vom Zwitschern der Vögel er­füllt war; nur dann und wann, wenn Waldmäuschen oder andere kleine Tiere durch das niedere Gesträuch huschten oder wenn die schnuckeligen Eichhörn­chen an den Baum­stämmen emporflitzten, raschelte es im Geäst.

Die zweite Lichtung lag schon eine ganze Weile hinter mir ... nicht mehr lange, dann wäre ich am Ziel.
Gleich, gleich taucht die dritte Schneise auf ... nur noch wenige Minuten ... dann habe ich den Platz erreicht, auf welchem Knut sein Leben lassen musste, dachte ich aufgeregt. Mein Herz schlug bei die­sen Gedanken schneller.
Vielleicht erhal­te ich dort oben von irgendwoher ein Zeichen, eine geheime Bot­schaft, die mich in meinen Nach­forschungen weiterbringt.
Ich träumte mit offenen Augen vor mich hin, während ich unter den flüsternden Blätterkronen entlangfuhr. Zum Glück waren Ferien. Diese Träumerei hätte mir todsicher einen Tadel einge­bracht, liebe Christine. Erst kürzlich scheuchte mich unsere Physiklehrerin aus der seligen Ruhe und zitierte mich nach vorn an die Tafel, wo ich mich bis auf die Knochen blamiert habe, nicht allein deshalb, weil ich in der letzten Stunde nicht aufgepasst hatte und mir die schematische Darstellung der elektromagne­tischen Wechselwir­kung völlig schnuppe ist, sondern hauptsächlich wegen Françoise Sagan, deren göttlichen Roman „Bonjour Tristesse“ ich vor einigen Tagen in unserer Bücherei ent­deckte und bei dessen Lektüre sich mein geringes Inter­esse für virtuelle Proto­nen vollends und auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hat.
Manchmal schlägt Papa mit der Faust auf den Küchentisch, wenn ich während des Essens träume und meine Ponyspitzen sich bedrohlich der Suppe nähern.
„Sie träumt“, wispert Mutti dann ganz entrückt, als ob das etwas Besonderes wäre.

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