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Papa schaut sie bei dieser Bemerkung jedes Mal böse an – als ob Träumen ein Verbrechen sei.
„Möchtest du auch ein neues Kleid aus dem Katalog vom Otto-Versand, Katja (Otto-Versand bringt mich um den Verstand: Papas ständige Worte)?“, fragt Mutti mich an solchen Tagen beim Geschirrspülen, als ob man von nichts anderem träumen könne, von langen Hosen zum Beispiel, die nicht gleich zerreißen, sobald man sich übern Stacheldraht schwingt, von Hof Lachau oder vom schönen Harry. Ich will nicht länger abschweifen, liebe Christine. Du sollst erfahren, wie es weiterging an jenem Tag im Juli, dem 13., der so herrlich hoffnungsvoll begann und den ich nie im Leben vergessen werde: Ich radelte also in Gedanken an Knut und mit großer Hoffnung im kleinen Herzen, Licht in das finstere Verbrechen bringen zu können, durch den Lachauer Forst, den ich dir hinreichend nahe gebracht habe, als etwas geschah, das mich für einen winzigen Moment aus dem Gleichgewicht brachte. Ehrlich gesagt, es hätte mich fast vom Rad gehauen, Christine.
Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich die Waldidylle in ein Horrorrszenario, das den törichten Wunsch in mir weckte, der Lachauer Forst möge mich auf der Stelle verschlingen. Alles ging blitzschnell: Eine dunkel gekleidete, schattenhafte Gestalt wirbelte rechterseits aus dem Buschwerk und schoss geradewegs auf mich zu. Ich spürte den Luftzug ihrer Geschwindigkeit. Die Kreatur war kohlrabenschwarz, vom Scheitel bis zur Sohle, und trug eine schwarze Gesichtsmaske mit schmalen Sehschlitzen. Den Kopf bedeckte eine offenbar feinrippige, tiefschwarze Wollmütze. Wahrscheinlich trug die Person auch Handschuhe, deren Farbe dir sicher kein Rätsel aufgeben wird.
Der Typ sah unbeschreiblich bedrohlich aus, fast unmenschlich. Ein Gorilla hätte mich weniger erschreckt.
Niemals zuvor war mir ein grauenhafteres Wesen über den Weg gelaufen, das kannst du mir glauben, Christine, und obwohl mir ein eisiger Schauer über den Rücken rieselte, notierte mein panischer Rest an Verstand, was meine vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen erspähten: eine mittelgroße, den geschmeidigen Bewegungen nach zu urteilen, sehr schlanke Gestalt, vermummt bis zur Unkenntlichkeit, mit einem scharfen, funkelnden Gegenstand in der rechten Hand. – Ein Dolch!?, durchzuckte mich blitzartig ein Gedanke. – Nein, ein Messer natürlich, du Dummchen, beruhigte ich mich.
Ich hörte sie deutlich läuten, die Kirchenglocken – anlässlich meiner Beerdigung. Die Waffe funkelte wie ein wertvoller Diamant in einer Geisterbahn aus gebündelten Lichtstrahlen, die die Sonne gewiss nicht zu meinem Ergötzen durch die Baumkronen jagte.
Wie Purzelbäume überschlugen sich meine Gedanken, hinter einer Stirn, die mit kaltem Angstschweiß bedeckt war.
Mein Hals war wie zugeklumpt. Ich brachte nicht den winzigsten Ton heraus, nicht mal ein Wimmern, von einem Hilfeschrei ganz zu schweigen. Meine starren Finger, mit denen ich den Fahrradlenker fest umklammert hielt, als wäre er mein einziger Halt auf dieser Welt, klebten vor Schweiß und schmerzten. In meinen Schläfen pochte das Blut, als wolle mein Kopf zerspringen, und vor meinen Augen flimmerten grellbunte Pünktchen und silberne Fädchen. Mein Körper war eine einzige Gänsehaut und in meinen Ohren rauschte die Nordsee.
Die Flucht nach vorn anzutreten, schien mir der einzige Ausweg, trotz eines Gefühls der totalen Hoffnungslosigkeit.
Versuch es wenigstens, regte sich nach anfänglichen Schrecksekunden der erste vernünftige Gedanke. Ich verspürte einfach noch nicht den Wunsch zu sterben, schon gar nicht von der Hand des Maskierten und hier, im Lachauer Forst, obwohl ... gibt es ein friedlicheres Plätzchen, wenn es denn schon sein musste?
Mach dich ganz leicht auf Lenis Stahlross, Katja ... stell dir vor, über dem Sattel zu schweben, drang von irgendwoher eine blutleere Stimme an mein Ohr. Das hörte sich verdächtig nach Knut an, der sich möglicherweise in einen guten Waldgeist verwandelt hatte.
Ach Knut!, dachte ich. Vielleicht sehen wir uns bald wieder – im Land der nebulösen Maskierten.
Lenis uralter Drahtesel verwandelte sich augenblicklich in einen pfeilschnellen Rappen; er trug mich wie auf Flügeln, um mit mir alle Hindernisse und die geheimnisvollen Schatten der hochwüchsigen Bäume zu überwinden. Und Hindernisse gab es genug: Baumstümpfe und Sträucher, bizarre Wurzeln und tote Äste, niederes Buschwerk und schwarzes Schlehdorngestrüpp, Schachtelhalm und Lungenkraut. Meine größte Sorge galt freilich dem bisweilen spiegelglatten Moosgrund. Ich konnte die gefährlichen Stellen kaum erkennen; denn ich sauste durch düstere Gefilde, die mir völlig unbekannt waren, mit Baumriesen aus dichtem Laubwerk, durch das kaum ein Sonnenstrahl drang. Schulterhohe Mauern aus Dornen und Gestrüpp erweckten den Eindruck, als seien sie undurchdringbar und erschwerten meine Flucht ganz erheblich. Die niedrig hängenden Zweige der Tannen peitschten mir ins Gesicht, rissen an meinen Haaren und zerkratzten meine Arme und Beine. Lenis tapferer Gaul trug mich über vertrocknetes Laub und knorrige, ausufernde Wurzeln. Unter den Rädern des altertümlichen Vehikels knackte morsches Geäst.
Der Kerl hinter mir durfte auf keinen Fall unsere Hinterflanke, den Gepäckträger, erwischen. Dann wären wir geliefert, „Rosinante“ und ich. Aber wie lange würde ich dieses Tempo noch durchhalten können? War es überhaupt möglich, diesem Irren zu entkommen?
Der Lachauer Forst wurde mit jedem Kilometer dichter; das Unterholz war auf dem besten Wege, sich in einen Dschungel zu verwandeln. Konnte ein normaler Mensch das überhaupt bewältigen? Und weshalb erschoss mich der Typ nicht kurzerhand? Weshalb knallte er mich nicht auch einfach ab, wie er vermutlich Knut abgeknallt hatte im letzten Jahr? – Er will dich leiden sehn, Katja, kam mir in den Sinn geschossen.
Falls er nicht doch irgendwo einen Revolver verborgen hält, gibt es vielleicht noch eine Chance, überlegte ich fieberhaft, während ich wie von Furien gehetzt über den Waldboden flog. Oder haben seine Beine ihn bereits im Stich gelassen? Kann er durch die fiesen Sehschlitze überhaupt genug erkennen? Eigentlich hätte er doch längst stolpern müssen. Vielleicht hatte er die Maske längst abgeworfen. Ich müsste ja eh sterben, da war es doch egal, ob ich sein Gesicht zu sehen bekäme. Aber möglicherweise ist er gar nicht so schnell und stark, wie ich vermute. Lieber Gott, hilf mir! Bitte, bitte! Ich will auch immer in Mathe und Physik aufpassen und in Zukunft ganz, ganz ...
Streckenweise berührten die Räder von Lenis altem Gaul kaum noch den federnden Nadelboden, der von tiefen Spuren zerfurcht war – als schleppten sich tagtäglich schwere Forstmaschinen und wuchtige Traktoren durch das Lachauer Gehölz. Wo steckten die