Gefährlicher Sommer (Teil 12) - Page 2

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von Annelie Kelch

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Papa schaut sie bei dieser Bemerkung jedes Mal böse an – als ob Träumen ein Verbrechen sei.
„Möchtest du auch ein neues Kleid aus dem Katalog vom Otto-Versand, Katja (Otto-Versand bringt mich um den Verstand: Papas ständige Worte)?“, fragt Mutti mich an solchen Tagen beim Geschirrspülen, als ob man von nichts ande­rem träumen könne, von lan­gen Hosen zum Beispiel, die nicht gleich zer­reißen, sobald man sich übern Stacheldraht schwingt, von Hof Lachau oder vom schönen Harry. Ich will nicht länger ab­schweifen, liebe Christine. Du sollst erfahren, wie es weiterging an jenem Tag im Juli, dem 13., der so herrlich hoffnungsvoll be­gann und den ich nie im Leben vergessen werde: Ich radelte also in Gedanken an Knut und mit großer Hoffnung im kleinen Herzen, Licht in das finstere Verbrechen bringen zu können, durch den Lachauer Forst, den ich dir hinreichend nahe gebracht habe, als etwas ge­schah, das mich für einen winzigen Moment aus dem Gleichgewicht brachte. Ehrlich gesagt, es hätte mich fast vom Rad gehauen, Christine.
Von einer Sekunde zur an­deren verwandelte sich die Waldidylle in ein Horrorrszenario, das den törichten Wunsch in mir weck­te, der Lachauer Forst möge mich auf der Stelle verschlingen. Alles ging blitzschnell: Eine dunkel gekleidete, schattenhafte Ge­stalt wirbelte rechterseits aus dem Busch­werk und schoss geradewegs auf mich zu. Ich spürte den Luftzug ihrer Geschwindigkeit. Die Kreatur war kohlra­benschwarz, vom Scheitel bis zur Sohle, und trug eine schwarze Gesichtsmaske mit schmalen Sehschlitzen. Den Kopf bedeckte eine offenbar feinrippige, tiefschwarze Wollmüt­ze. Wahrscheinlich trug die Person auch Handschuhe, deren Farbe dir sicher kein Rätsel aufgeben wird.
Der Typ sah unbeschreiblich bedrohlich aus, fast unmensch­lich. Ein Gorilla hätte mich weniger erschreckt.
Niemals zuvor war mir ein grauenhafteres Wesen über den Weg gelaufen, das kannst du mir glauben, Christine, und obwohl mir ein eisiger Schauer über den Rücken rieselte, no­tierte mein panischer Rest an Verstand, was meine vor Entset­zen weit aufgerissenen Augen erspähten: eine mittel­große, den geschmeidigen Bewe­gungen nach zu urteilen, sehr schlanke Gestalt, vermummt bis zur Unkenntlichkeit, mit einem scharfen, funkeln­den Gegenstand in der rech­ten Hand. – Ein Dolch!?, durchzuck­te mich blitzartig ein Gedanke. – Nein, ein Messer natürlich, du Dummchen, beruhig­te ich mich.
Ich hörte sie deutlich läuten, die Kirchenglocken – anläss­lich meiner Beerdigung. Die Waffe funkelte wie ein wertvoller Diamant in einer Geisterbahn aus gebündelten Lichtstrahlen, die die Sonne gewiss nicht zu meinem Ergötzen durch die Baumkronen jagte.
Wie Purzelbäume überschlugen sich meine Gedan­ken, hinter einer Stirn, die mit kaltem Angstschweiß bedeckt war.
Mein Hals war wie zugeklumpt. Ich brachte nicht den winzig­sten Ton heraus, nicht mal ein Wimmern, von einem Hilfeschrei ganz zu schweigen. Meine starren Fin­ger, mit denen ich den Fahrradlenker fest umklammert hielt, als wäre er mein einziger Halt auf dieser Welt, klebten vor Schweiß und schmerzten. In meinen Schläfen pochte das Blut, als wolle mein Kopf zerspringen, und vor meinen Augen flimmerten grellbunte Pünktchen und silberne Fädchen. Mein Körper war eine einzige Gänsehaut und in meinen Ohren rauschte die Nordsee.
Die Flucht nach vorn anzutreten, schien mir der einzige Ausweg, trotz eines Ge­fühls der totalen Hoffnungslosigkeit.
Ver­such es wenig­stens, regte sich nach anfänglichen Schrecksekunden der erste ver­nünftige Gedanke. Ich verspürte einfach noch nicht den Wunsch zu sterben, schon gar nicht von der Hand des Maskierten und hier, im Lachauer Forst, obwohl ... gibt es ein friedlicheres Plätzchen, wenn es denn schon sein musste?
Mach dich ganz leicht auf Lenis Stahlross, Katja ... stell dir vor, über dem Sattel zu schweben, drang von irgendwoher eine blutleere Stimme an mein Ohr. Das hörte sich verdächtig nach Knut an, der sich möglicherweise in einen guten Waldgeist verwandelt hatte.
Ach Knut!, dachte ich. Vielleicht sehen wir uns bald wieder – im Land der nebulösen Maskierten.
Lenis uralter Drahtesel verwan­delte sich augen­blicklich in einen pfeilschnellen Rap­pen; er trug mich wie auf Flügeln, um mit mir alle Hindernisse und die ge­heimnisvollen Schatten der hochwüchsigen Bäume zu überwinden. Und Hindernisse gab es genug: Baumstümpfe und Sträucher, bizarre Wurzeln und tote Äste, nie­deres Buschwerk und schwarzes Schlehdorngestrüpp, Schachtelhalm und Lungenkraut. Meine größte Sorge galt freilich dem bisweilen spie­gelglatten Moosgrund. Ich konnte die gefähr­lichen Stellen kaum erkennen; denn ich sauste durch düstere Gefilde, die mir völlig unbekannt waren, mit Baumriesen aus dichtem Laubwerk, durch das kaum ein Sonnenstrahl drang. Schulterhohe Mauern aus Dornen und Ge­strüpp erweckten den Eindruck, als seien sie undurchdringbar und erschwerten meine Flucht ganz erheblich. Die niedrig hängenden Zweige der Tannen peitschten mir ins Gesicht, rissen an meinen Haaren und zerkratzten meine Arme und Beine. Lenis tapferer Gaul trug mich über vertrocknetes Laub und knorrige, ausufernde Wurzeln. Unter den Rädern des altertümlichen Vehikels knackte morsches Geäst.
Der Kerl hinter mir durfte auf keinen Fall unsere Hinter­flanke, den Gepäckträ­ger, erwischen. Dann wären wir geliefert, „Rosinante“ und ich. Aber wie lange würde ich dieses Tempo noch durchhalten können? War es über­haupt möglich, diesem Irren zu entkommen?
Der Lachauer Forst wurde mit jedem Kilometer dichter; das Unterholz war auf dem besten Wege, sich in einen Dschungel zu verwandeln. Konnte ein nor­maler Mensch das überhaupt bewältigen? Und weshalb erschoss mich der Typ nicht kur­zerhand? Weshalb knallte er mich nicht auch einfach ab, wie er vermutlich Knut abgeknallt hatte im letzten Jahr? – Er will dich leiden sehn, Katja, kam mir in den Sinn geschossen.
Falls er nicht doch irgendwo einen Revolver verborgen hält, gibt es vielleicht noch eine Chance, überlegte ich fieberhaft, während ich wie von Furien gehetzt über den Waldboden flog. Oder haben seine Beine ihn bereits im Stich gelassen? Kann er durch die fiesen Sehschlitze überhaupt genug erkennen? Eigentlich hätte er doch längst stolpern müssen. Vielleicht hatte er die Maske längst abgeworfen. Ich müsste ja eh sterben, da war es doch egal, ob ich sein Gesicht zu sehen bekäme. Aber möglicherweise ist er gar nicht so schnell und stark, wie ich ver­mute. Lieber Gott, hilf mir! Bitte, bitte! Ich will auch immer in Mathe und Physik aufpassen und in Zukunft ganz, ganz ...
Streckenweise berührten die Räder von Lenis altem Gaul kaum noch den federnden Nadelboden, der von tiefen Spuren zerfurcht war – als schleppten sich tagtäglich schwe­re Forstmaschinen und wuchtige Traktoren durch das Lachauer Gehölz. Wo steckten die

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