Gefährlicher Sommer (Teil 12) - Page 4

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von Annelie Kelch

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ohne Begleitung durch einen riesi­gen Wald zu fahren, darin vor einem Jahr ein Mord geschehen war und der nach dieser Untat die Sprache verloren hatte und unheimlich „schwarz und schweiget“, fast wie zu Urzeiten, in der Gegend herumstand.

Zu spät! Zu spät!, säuselte ein kleiner Wind durch die Kronen der Bäume. Zu spät! Zu spät!, raunten die zottigen Fichten den majestätischen Tannen zu, die vor lauter Langeweile die Wolken neckten.
Jetzt stecken sie die Köpfe zusam­men, spotten hinter meinem Rücken und sitzen wahrscheinlich längst am grünen Tisch, um das Los darüber entscheiden zu lassen, welcher Kamerad für meinen Totenschrein das Zeitli­che zu segnen habe.
Tannenholz wäre mir lieb, erhob sich ein jäher Impuls in meiner hämmernden Brust. Ich war ja nicht nachtragend.
Im nächsten Moment sehnte ich mir einen mächtigen Bären herbei. Er würde großzügig an mir vor­übertapsen und meinen Verfolger lässig umharken. – Oder Waldarbeiter! Nicht ein einziger Axthieb war zu hören, nicht das winzigste Geräusch einer Kettensäge! Weshalb bekam man in diesem riesigen Gehölz niemals einen Forstgehilfen zu Gesicht? Hier gab es doch Ar­beit in Hülle und Fülle!
Nicht das leise­ste Geräusch einer Motorsäge übertönte das Vogelgezwitscher, kein Jagdaufseher kam daherspaziert, kein einsamer Wandervogel, von Pilzsammlern und Spaziergängern mal ganz zu schwei­gen; nicht einmal ein Wilderer kreuzte die verwahrlosten Pfade. Es war so sagenhaft unheimlich, liebe Christine.
Meine Angst wuchs mit jedem Meter Waldboden, den ich auf Lenis unverwüstlichem Stahlross zurücklegte. Knut hatte Recht, als er sich letztes Jahr darüber beklagte, dass die Gnädigste den Wald überhaupt nicht nutze, dass sie ihn vielmehr verkom­men ließe!, dachte ich wütend. Ich stellte mir eine Kompanie Waldarbeiter vor. Der mit der größten Motorsä­ge schleu­derte das heulende Ding nach dem Ungeheuer, das hinter mir herkeuchte. In meine närrischen Gedanken drang gar das Gelächter des Maskierten: keckernd und meckernd wie „Mephisto im Gehölz“.
Zu spät, zu spät, pinselte ein feines Rinnsal Blut auf meine Wade – zum An­denken an zahlreiche Himbeer- und Brombeerranken, denen ich trotzte wie die katholischen Kurfürsten dem Machtanspruch König Ferdinands im Dreißigjäh­rigen Krieg – falls ich das damals richtig verstanden hatte.

Die Todesangst, die mich beschlichen hatte, jagte seit gerau­mer Zeit nicht nur kalte Schauer über meinen Rücken, sondern löste auch enorme Hitze­wellen aus, die keines­falls allein von den Strapazen der Flucht herrührten; sie pulsier­ten in stürmischen Wellen durch meinen angstvollen Leib. Die schmerzliche Ahnung, dass sich mein Schicksal mit dem armen Irren hinter mir verknüpfen sollte, trieb mir den Schweiß aus sämtli­chen Poren.
Zu allem Überfluss kroch ein Insekt an meinem Bein empor. Hoffentlich keine Biene, dachte ich. Diese gift­gelben Plüschmonster hatten sich gefälligst mit dem Einsammeln von Blütenstaub und Nektar zu be­schäftigen, anstatt Menschen zu belästigen, die in akuter Lebensgefahr schwebten. Ich schob mein linkes Bein vom Pedal und schwenkte es auf und ab, aber das Tier ließ sich ebenso wenig abschütteln wie mein Verfolger, den ich nach wie vor hinter mir wähnte. Gemeine Deutsche Waldwespe, wütete ich. – Germanica vulga­ris, fiel mir erstaunlicherweise ein (was während der Lateinstunde höchst selten der Fall ist), aber was hieß Wespe auf Lateinisch? Ich würde Konny fragen müssen, falls ich ihn noch einmal zu Gesicht bekäme.
So viel Zeit war vergangen, so viel Sommergehölz hatte ich fahrend durchmessen; aber ich wagte immer noch nicht, meinen Kopf zu bewegen und zur Seite zu schauen, nicht mal aus den Augenwinkeln riskierte ich einen Blick.
Der Lachauer Forst nahm allmählich Ausmaße an, die mir den vorjährigen Dia-Vortrag in der Aula unserer Schule ins Gedächnis riefen – ein Dokumentarfilm über die Taiga.
Wann hatte dieses Jammertal endlich ein Ende? War ich nicht schon eine halbe Ewigkeit unterwegs? Mein leidgeprüftes Herz, das sich vor lauter Schreck in die Hose verkrümelt hatte, wo es furchtsam und demütig der grausa­men Dinge harrte, die sich allzu maßlos angekün­digten, robbte ange­sichts der Tatsache, dass ich immer noch am Leben war und Luzi­fers Atem nicht länger mehr im Nacken spürte, langsam wieder hoch und nahm seinen gewohnten Platz ein, als sei nichts geschehen; aber ich wähnte mich nach wie vor in großer Gefahr.
Nichts er­schien mir zweifelhafter als die Fra­ge, ob ich die finstere Attacke überleben würde. Erst als der Wald sich allmählich öff­nete und die Sonnen­strahlen nahezu ungehindert auf das eben noch im Halbdunkel ruhende Moos trafen, als ich die grün schimmernde Bläue des spiegelglatten Badesees durch die schwarzen Tannen blitzen sah und Sekun­den später zu meiner Überraschung und unendlichen Er­leichterung eine Handvoll Badegäste am Ufer entdeckte, atmete ich erleich­tert auf, lockerte die Zügel und ließ Lenis müden Gaul gemäch­licher traben. Die plötzliche Helligkeit hatte sich wie ein un­durchdringlicher Schleier über mein Gesicht gelegt und mich sekundenlang geblendet; es dauerte eine Weile, bis ich die Strahlen wahrnahm, mit denen die Sonne den Wald­boden koste und das Moos wie hellgrü­nen Samt er­strahlen ließ. Selbst die tanzenden Schatten der vom Lufthauch schwingenden Baumkronen konnten mich nicht länger erschrecken. Ich beäugte verzückt den senfgelben Sonnenstrahl, der schräg und scharf wie eine messerscharfe, unendli­che Gerade durch die Baumkronen stürzte – einem Mondstrahl ähnlich, als hätte der treue Erdtrabant eine Gangway zur Erde hinabgelassen, und mir fiel sofort die Ge­schichte vom kleinen Häwelmann ein. Dort heißt es: „... der Mond ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fahren, und darauf segelte die arme Katja, äh, der kleine Häwelmann zum Wald, äh, zum Hause hinaus. Der gute Mond gab sich große Mühe, zwischen den vielen Bäu­men hindurchzukommen (Leidensgenosse); mitunter war er ein ganzes Stück zurück, aber er holte den kleinen Häwelmann doch immer wieder ein.“

Ich versuchte, meine Hand vom Lenker zu lösen – im ersten Moment schien sie wie festgewachsen – und beschattete meine Augen gegen die blendenden Sonnenstrahlen.
Noch vor wenigen Minuten hatten mich die schwarzen Schwingen des Todes ge­streift und jetzt lagen vor mir, in greifbarer Nähe, die herrlichen Wiesen und funkelten in der Sommersonne wie hell­grüne Juwelen. Es duftete nach frischem Gras und wilden Blüten; die Vögel mischten sich jubilierend in das Konzert der Frösche, als gelte es, meine wun­dersame Rettung zu feiern, und über dem Wasser schimmerte ein märchenhafter Blau­dunst. Wir hatten es geschafft, „Rosi­nante“ und ich. Mit einem riesigen Ge­fühl der Dankbarkeit tätschelte ich

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