Gefährlicher Sommer (Teil 12) - Page 5

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von Annelie Kelch

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Rosis rostigen Lenker, beugte mich hinunter zu dem alten Stahlross und hauchte einen verstohlenen Kuss auf das antike Metall. – Du wusstest ja längst, dass wir mit dem Leben davonge­kommen sind, liebe Christine. Ich hätte es dir sonst nicht schreiben können. Deshalb ist es leider nicht mehr allzu spannend für dich. – Sorry!

Total erschöpft, schweißüberströmt und hechelnd wie ein altersschwacher, todkranker Jagd­hund vor dem Gnadenschuss, aber wie von Höllenqualen erlöst, legte ich Lenis tapferen Gaul ausgesprochen sanft ins Gras und ließ mich in unmittelbarer Nähe einer jungen Frau, die mit ihren beiden Kindern auf einer Decke saß, ins hohe, sonnenversengte Gras sin­ken. Meine Lungen brannten wie eine schwelende Wunde unter Jodeinfluss.

Ich war gerettet, aber mir war sterbenselend zumute. Mein Puls raste wie verrückt, in meinem Kopf hämmerte ein Specht, und ich hatte höllisches Seitenstechen.
Ich harrte minutenlang regungslos aus, um mein pani­sches Herz zu beruhigen und betrachtete die Kratzspuren auf meinen Armen und Beinen, die die Dornen hinterlassen hatten. Dabei stellte ich Überlegungen an, auf welchem Weg ich möglichst lebendig zurück zum Gut gelangen könnte; aber alles, was mir dazu einfiel, nahte sich als bestürzender Gedanke: die erneute Angsttour durch diesen Horrorr-Wald, den ich unter gar keinen Umständen mehr betreten wollte (jedenfalls nicht ohne männliche Begleitung; Kora würde sich eh nicht trauen). Mir brach der letz­te Rest an entbehrlicher Flüssigkeit aus den Poren. Die Panikbrühe sammelte sich auf meiner Stirn und tropfte auf Omas gute Decke, auf die ich mein gemartertes Haupt gebettet hatte, während mir dämmerte, dass ich in der Falle saß.
Der finstere Waldsaum wucherte fast in den See hinein, so nah drängten sich die Bäu­me ans Wasser – als stünden sie kurz vorm Verdursten. Meine Retterin, die schmale Liegewiese rings um den See, war gottlob nicht gänzlich leer. Sie schien von ihrer Samariter-Rolle nicht das Geringste zu ahnen. Wäre sie ganz und gar einsam und verlassen gewesen, hätte ich derweil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Luzifers Messer zu spüren bekommen. Vermutlich wäre der Maskierte jetzt dabei, mit einer Säge mein nachdenkli­ches Haupt zu entfernen, um es hernach im See zu entsorgen. Und beim nächsten Badeaus­flug würde der arme Hannes während eines Tauchmanövers ...
Ver­zweifelt verbarg ich mein Gesicht in den Händen, um die entsetzlichen Bilder, die in mir aufgestiegen waren, zu verscheuchen. Es half nicht.
Die junge Mutter, die keine zwei Meter von mir entfernt auf ihrer Decke lag und sich von der Sonne bräunen ließ, hob von Zeit zu Zeit den Kopf und warf ein Auge auf ihre beiden Kinder, die mittlerweile am Ufer im Kiessand buddelten. Mich streifte sie mit einem kurzen Blick, dabei befand ich mich nach wie vor in höchster Lebensgefahr, was mir zu jenem Zeitpunkt in letzter Konsequenz noch gar nicht bewusst war. Auch der ältere Herr, der unweit von uns entfernt in die „Lübecker Nachrichten“ vertieft war, nahm nicht die geringste Notiz von seiner Umgebung.
Am Waldrand, dessen Tannen schweigend zu mir herüber­starrten und finster mit ihren dunkelgrünen Filzhüten nickten (warte nur, balde ...), spielten vier Knaben Fußball. Eine dunkle Gestalt bewegte sich zwischen den Stämmen der hohen Bäume, was mein Herz zum Anlass nahm, seine Raserei fortzusetzen. Mit zitternden Händen fummelte ich Opas Fernglas aus der Badeta­sche, hielt es vor meine Augen und schwenkte den Waldsaum ab. Das gute Stück wäre mir vor lauter Schreck beinahe aus den Fingern geglitten. Der Unhold lehnte am Stamm einer riesigen Tanne und wandte mir sein maskiertes Gesicht zu.
Die Finsternis des Waldes kroch langsam, aber bedrohlich auf mich zu; meine Hände begannen wie verrückt zu zittern, und mich befiel eine Riesenangst. Sie rumorte wie ein schweres Gewitter in meinen Adern. Bevor es zappenduster wurde, ver­schwamm der Lachauer Wald Stück für Stück vor meinen Augen. Das abgrundtiefe Dunkel, das auf die Silhouette des Waldsaums folgte, drehte sich wie verrückt im Kreis, und ich geriet mitten hinein in diesen tosenden Strudel. Ich streckte meine Hände aus, um mich abzustützen und bekam gerade noch mit, dass meine sterbliche Hülle ausgespro­chen bedächtig, fast wie in Zeitlupe, auf Oma Anitas bunt karierte Decke und anschlie­ßend in ein tie­fes, unergründliches Meer versank. Ich weiß nicht, wie lange ich dort bewusstlos lag, liebe Christine. Als ich wieder zu mir kam und vorsichtig blinzelte, prallten die Landschaft und das intensive Himmelsblau wie ein wunderschöner Traum auf meine Seh­zellen. Im ersten Moment fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt (Wunschdenken nach Horrorerlebnis).
Ich stellte mir vor, dass der Kerl mich tatsächlich erwischt und getötet hatte und dass ich angesichts dieser Gemeinheit trotz mittelprächtiger Leistungen zwei Schulklassen überspringen durfte – auf einem anderen Planeten, darauf Forstgebiete die Größe von Parkanlagen nicht überschreiten dürfen. – Was für ein himmelschreiender Blödsinn!

Es dauerte eine geraume Weile, bis ich mich aufsetzen konnte. Die Sonne leuchtete wie frisches Tomatenmark, und ich spürte ihre Wärme auf meinen nack­ten Schultern, schnupperte die warme Erde unter dem trockenen Gras; aber die Luft war mittlerweile schwer und feucht geworden, und der Kiesteich wälzte ein paar dunkle Wellen gegen das Ufer. –
Es grenzte an ein Wunder, dass Lenis Vehikel noch nicht hinüber war. Ich hatte schon geglaubt, der Lachauer Forst nehme überhaupt kein Ende mehr, die ganze Welt bestünde nur noch aus Wald, so unendlich lang war mir die Hetzjagd erschienen. Dabei hat sie allerhöch­stens eine halbe Stunde gedauert.

Während ich mich unablässig um plausible Erklärungen be­mühte, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass nicht nur der Zeitungsleser verschwun­den war, sondern auch die junge Frau sich entfernt hatte. Sie strebte mit ihren Kindern und fröhlicher Entschlossenheit dem Lachauer Forst zu (wahrscheinlich plagte sie nicht die geringste Ahnung, wie gefährlich es da drinnen zuging). Obgleich keine ein­zige Gewitterwolke den klaren blauen Himmel trübte (sie hätten doch ruhig noch eine Weile bleiben können), verschwanden sie hinter den schwarzen Tannen und ließen mich mit meiner Angst allein zurück. Ich hatte weder den Mut noch die Kraft, ihr nachzueilen und mich ihr anzuvertrauen, was vermutlich meine Rettung bedeutet hätte. Stattdessen blieb ich wie betäubt auf Omas Decke hocken.

Das Auge des Kiesteichs blickte glanzlos und träge, als käme bereits die Dämmerung aus dem Himmel gekrochen, um sich auf Wald und Wiesen zu legen.
Zu allem Überfluss plagte mich ein heftiger Schluckauf, den ich nicht in den Griff bekam. Laute krächzende Rufe dran­gen zu mir herüber. Die Jungs, die offenbar im Stimmbruch waren, stürmten über die versengte Wiese, die sich wie ein grüngelbes Laken, das mit einem überhitzten Bügeleisen bearbeitet worden war, zwischen Kiesteich und Wald spannte. Sie tobten immer noch hinter dem Ball her, und ich hoffte, sie würden die ganze Nacht hindurch spielen.
Ich sehnte, was ich niemals für möglich gehalten hätte, die Clique herbei: Hannes, den undurchsichtigen Schwerenöter, den akkuraten Konny und natürlich Kora, die quietschfidele Krabbe, die sich vor Wildschwei­nen fürchtete. Mutlos starrte ich zu den hohen Bäume hinüber, die mir finstere Grüße vom Maskenmann bestellten.
Ich verstand die Warnung der Tannen nur allzu gut. Aber es gab keinen anderen Weg. Selbst wenn ich die kürzeste Strecke zur Dorfstraße wählte, müsste ich den Lachauer Forst durchqueren.

„Lasst uns endlich nach Hause fahren. Ich hab keine Lust mehr und einen Bärenhun­ger“, gröhlte einer der Jungs. Ein eisiger Schreck fuhr mir durch die Glieder. Voller Ent­setzen verfolgte ich, wie sie zu ihren Fahrrä­dern schlen­derten, die nicht weit von mir entfernt im Gras lagen. Sie schwan­gen sich unter lautem Geschwätz auf die Sättel und ent­fernten sich aus meinem Blickfeld.
Meine Flucht, die wahnsinnige Anstrengung, dem Verfolger zu entkom­men, war umsonst gewesen. Ich schniefte in mein zerfleddertes Papiertaschentuch und unterdrückte die Tränen. Mechanisch, fast wie in Trance, setzte ich Opas Fernglas erneut an die Augen – und ließ es augenblicklich wieder sin­ken. Der schwarze Typ bewegte sich zielbewusst auf mich zu – langsamer noch als die Schatten der hohen Tannen, die näher und näher krochen. Er wähnte mich zu Recht in der Falle. Mir war, als spürte ich bereits die Abenddämmerung aus den Bäumen hervorquellen. Dabei konnte es kaum später als fünfzehn Uhr sein. – „Es ist schon spät, es wird schon kalt, kommst immermehr aus diesem Wald“, fiel mir zu allem Überfluss ein – Zeilen eines Gedichts, das wir vor Jahren auswendig lernen mussten?
Oder handelt es sich dabei um einen Vers aus einem gruseligen Märchen? – Ich weiß es leider nicht mehr, liebe Christine.

Ich gab nicht auf. – Also los, Katja! Worauf wartest du noch? Mach, dass du hier weg kommst, sprach ich mir Mut zu.
Aber wie und wohin? – Rennen? – Keine Chance! – Lenis Fahrrad? Erst mal aufsteigen und damit ins Gleichgewicht kommen. Das Boot? – Na klar! Weshalb war ich nicht gleich darauf gekommen? Ich raste zum Steg. Himmelherrgottnochmal! Wo steckte dieser morsche Kahn? – Da!, unter den Bohlen, im dunklen Wasser, dümpelte das Teil nutzlos vor sich hin! Wiegte sich einladend im Drei-Viertel-Takt, ob­gleich es absolut windstill war – wahrscheinlich sah ich vor lauter Angst schon alles verschwommen.
Ich zog in Windeseile das Tau über den Pflock, sprang in den flachen Kahn, ergriff die Paddel und ruderte, was das Zeug hielt – bis mich etwas unerhört Hartes am rechten Ellenbogen traf. Ein Stein, war mein letzter Gedanke, während ein stechender scharfer Schmerz durch meinen Arm lief. Eine Nanosekunde später fiel mir das Paddel aus der Hand; hinter mir hechtete irgendwer ins Wasser, und im nächsten Augenblick packten mich zwei kräftige Arme und warfen mich über Bord.

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