Gefährlicher Sommer (Teil 7)

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von Annelie Kelch

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Die Stille der Nacht ward Spielzeug des Windes;
durch das Gitter der Weinranken fiel einsamer
Vogelschrei ins Zimmer.
(...)
... doch nun zerreißt die Lanze des Hahnenschreis
das Trauertuch des Sees.
Wieder lächeln Menschenhäuser in der Helle des Tages.
Friedrich Glauser, „Nacht“, März 1920

Ein Streich im Jagdzimmer, ein dramatischer Schrei und jede Menge Armleuchteralgen

Ich hatte den Wecker auf fünf Uhr gestellt. Es dämmer­te allmählich, und die ersten Geräusche geisterten durch das riesige Haus. Axel Kröger wollte in aller Frühe zu einer Viehauktion nach Husum aufbrechen; die Gnädig­ste hatte den Ausflug beim gestri­gen Abendessen erwähnt. In meinem Kopf klingelten sämtliche Alarm­glocken, während sie sich mit Leni über die anstehende Reise unterhielt. Die Abwesenheit des mürrischen Herrn Inspektors kam mir wie gerufen; eine gün­stigere Gelegenheit für den ausgesprochen harmlosen Streich, den ich Knuts Nachfolger spielen wollte, würde sich so schnell nicht wieder bieten.

Bis nach Mitternacht hatte ich mich vor lauter Aufregung und weil die Hitze nahezu unerträglich war, im Bett hin und her gewälzt und Stunde um Stunde an die Decke meiner vom Mondlicht erhellten Kammer ge­starrt. Kurz nach Sonnenaufgang hatte einer der Hähne, vermutlich der Goldene Brakel, zum Morgenappell angesetzt.
Er fing relativ harmlos zu krähen an, herausfordernd dezent, mit gedämpfter, fast heiserer Stimme, die zehn Minuten später (diese Ausdauer!) zu einer unerträgli­chen Lautstärke anschwoll. Was dann folgte, war ein unentwegtes Crescendo ohne jedwedes Staccato. Das stelle dir bitte einmal vor, Christine.
Nach einer Ewigkeit, jeder normale Mensch hätte diesem Vogel längst die Pest an den garantiert wund ge­krähten Hals gewünscht, verfiel die zügellose Krea­tur endlich in ein erbarmungswürdiges Krächzen. Lei­der hatte ich das Pech, dass sich einer seiner Artgenos­sen ebenfalls zur Früh­schicht berufen fühlte und ihn ablöste. Nach­dem noch ein paar andere Gockel ihre herrgottsfrühe Munterkeit mehr als deutlich kundgetan hatten, fiel ich vor lauter Erschöpfung in einen kur­zen, unruhigen Schlaf, durch den sämtli­che Hähne dieser Welt geisterten. Selbstverständlich wurde ich auch während der Ferien nicht von jenem wider­lichen Albtraum verschont, der mich seit mei­nem vierten Lebensjahr in hunds­gemeiner Regelmäßigkeit zu plagen pflegt.
Zu jener Zeit, die sich im tiefsten Sommer zutrug, wachte ich jeden Morgen (draußen war es bereits taghell) gegen fünf Uhr auf, weil auf dem Hinterhof des riesigen Mietshauses, darin unsere Wohnung lag, irgendein Hahn stets zur gleichen Stunde lauthals zu krä­hen be­gann. Weil ich erst drei, höchstens vier Jahre alt war, durfte ich noch nicht alleine draußen spielen und hatte nicht die gering­ste Ahnung, wie es in der näheren Umgebung aussah. Ich stellte mir einen riesigen Misthaufen vor, den dieses nervtötende Tier bei Morgengrau­en anflog, um sich auf dessen Gipfel die Seele aus dem Leib zu schreien mit dem einzigen Ziel, die kleine Katja zu ärgern.

Morgen für Morgen fuhr ich beim ersten Hahnenschrei ver­schreckt vom Kissen hoch und konnte nicht wieder ein­schlafen. Irgendwann dachte ich: Hoffentlich kommt bald der Fuchs und frisst dieses dämliche Vieh, mit Haut und Federn. Ich erschrak vor mir selber, zuckte inner­lich zu­sammen, als mir dieser Gedanke in den Sinn ge­schossen kam. Woher ich damals wusste, dass Füchse Hühner reißen, kann ich zweifelsfrei nicht erklären; vermutlich war eines die­ser grausamen Märchen daran schuld, die sich bekannt­lich fast alle Kinder vorzugs- und unbegreiflicherweise vor dem Schlafenge­hen anhören müssen.

Eines schönen Tages jedoch schwieg dieser Hahn, und in der darauf folgenden Nacht träumte mir, jemand habe an unsere Tür gepocht und ein Schutzmann in grüner Uniform sei über die Schwelle spaziert, nachdem meine Mutter die Tür geöffnet hatte. Wir sa­ßen gerade beim Früh­stück. Der Gesetzeshüter trug einen leblosen Hahn unter dem Arm. Seine Kehle war fast vollständig durchgebissen. Das Tier sah entsetzlich aus.
„Hier haben Sie den toten Gockel“, fauchte der Kriminale und knall­te das Vieh auf unseren Küchentisch. Jetzt dürfen Sie ihn auch rupfen und fres­sen.“ Er warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Ein schrecklicher Traum für ein kleines Mädchen, liebe Christine. Ich grübelte monatelang darüber nach, ob ich den Hahn durch mein Wunschdenken auf dem Ge­wissen hatte. (Denkbar wäre, dass er von einem Bauern in der Nachbarschaft geschlachtet oder verkauft wurde.)
Der Goldene Brakel würde sich gewiss noch kräftiger aufblähen, wenn ihm bewusst würde, dass er, gleich dem Morgenstern, ein Christus­symbol dar­stellt. Unsere Vor­fahren in der Spätantike waren nämlich der Meinung, dass die Nacht lebens­feindlich und bedrohlich sei und dass die Hähne die Menschen in den neuen Tag hinüberretten. Bei mir ist es momen­tan leider umgekehrt, Christi­ne: Mich kann nur noch der nächtliche Schlaf retten: Mein Leben ist ein einziger Trüm­merberg, meine Welt ein Scherbenhaufen, weil irgendein Hausmeister mit Putzfimmel in einem Bremer Gymnasium die Korridore gebohnert hat.

Ich erwachte schweißgebadet und fühlte mich betäubt wie nach einer viel zu starken Narkose. Das Fahrgeräusch eines Traktors tuckerte in meine ersten Gedanken. Noch im Halbschlaf nahm ich wahr, wie die schwere Landmaschine über die Schlag­löcher der Allee rumpelte, ein altvertrautes Sommergeräusch, das mich in keiner Wei­se erschreckte.
Vergeblich forschte ich in meinem Gedächtnis nach Traum­fetzen, aber der morgenfrühe Schlummer hatte jede Erinnerung ge­tilgt.
Glücklicherweise fiel mir wenigstens ein, was ich mir während des langen Wachseins in der vergangenen Nacht vor­genommen hatte: Ich wollte die spannendste Epoche meines Lebens behut­sam anrollen lassen. Die kleine Missetat gegen den neuen Ver­walter war lediglich als Ouvertüre gedacht. Ich hoffe, dass mir ge­nügend Tor­heiten einfallen, um dein momentan ödes Dasein zu salzen und zu pfeffern, ohne dass man mich gleich vom Hof jagt, Christinchen.

Es war kurz nach halb sechs, als ich ihn die Treppe hinabsteigen hörte. Ei­gentlich hörte ich weniger ihn als das leise Knarzen der alten Stufen. Der Herr In­spektor verhielt sich ausgesprochen leise. Offenbar wollte er nieman­den wecken. Eigentlich ganz symphatisch. Vielleicht ist er doch nicht ganz so eklig wie ich vermutet habe, dachte ich.

Ich sah ihn deutlich vor mir, wie er sein Frühstück aus dem riesigen Eis­schrank nahm und sich Kaffee aufbrühte. Die Gnädigste hatte gestern Abend noch einen Berg Brote geschmiert. Immerhin war er der wichtigste Mann auf dem Gut – nun, da Knut in die ewigen Jagdgründe eingegangen war.
Mutterseelenallein würde Kröger am Küchentisch kauern und gegen den Schlaf kämpfen.
Im Nebengemach lag unsere gute Leni in einem unharmonischen, gefährlichen Schlummer. Sie schnarchte, was das Zeug hielt. Besonders nachhaltig beun­ruhigten mich die Aussetzer zwischen den

Die Armleuchteralgen (Charophyceae oder Charales), die ganz am Schluss dieses Kapitels auftreten, sind eine weltweit verbreitete, phylogenetisch urtümliche Organismengruppe von Wasser„pflanzen“. Armleuchteralgen werden zwar manchmal zu den Grünalgen gezählt, haben mit diesen aber nur die Assimilationspigmente und Reservestoffe gemein. Ihr Habitus ähnelt eher höheren Blütenpflanzen (vor allem dem Hornblatt, Ceratophyllum). Mit ihrem Aufbau und ihren Fortpflanzungsorganen stehen Armleuchteralgen im System der heutigen Lebewesen als eine isolierte Gruppe. Phylogenetisch betrachtet gelten sie als Schwestertaxon der Pflanzen. Der wissenschaftliche Name wurde vom lateinischen chara (= eine bestimmte Knollenfrucht von bitterem Geschmack) abgeleitet. Diesen hat Carl von Linné im Jahr 1763 geprägt. Ihren deutschen Namen verdanken sie der Anordnung der Quirläste und der darauf sitzenden Gametangien; diese erinnert an einen vielarmigen Kerzenleuchter (aus Wikipedia).

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