Wenn ich an das süßeste Wesen denke, das ich kenne, legt sich ohne mein bewusstes Zutun ein entspanntes Mona-Lisa-Lächeln auf mein Gesicht und ich bin sicher, dass ich von innen heraus leuchte. Solange man es nicht selbst erlebt hat, kann man es wohl schwer nachvollziehen, wie ein Kind, das man nicht selbst zur Welt gebracht hat, das Herz so mit Zärtlichkeit füllen kann, wie man eine solche emotionale Nähe entwickeln kann zu dem Kind nicht nur der nächsten, auch der übernächsten Generation, zum Enkelkind, in meinem Fall: Keeran.
Keeran hat lange auf sich warten lassen und ist mit seinem Erscheinen in unserer Mitte die Wunscherfüllung nicht nur seiner Eltern, sondern auch der beiden Omas geworden, die schon nicht mehr an ein Enkelkind geglaubt hatten.
Sein Geschwisterchen ist zu einem Sternenkind geworden und hat dadurch Platz gemacht für ihn. Vom ersten Moment an hat er alle um sich herum verzaubert, er war voll ausgereift, aber so zartgliedrig, dass ihn die Krankenschwestern nur auf einer Wärmematte schlafen ließen, aus Angst, er würde ansonsten auskühlen können. Für sie galt das Argument nicht, dass er ein „indisches Kind“ ist – sein Papa kommt aus Indien – und dass dort „alle“ Babys so zart sind. Mit seinem kleinen Rosenmündchen hat er alle in seinen Bann gezogen.
Es ist ja bekannt, dass Babys sowieso jeden, der fühlen kann, erweichen, und dass vor allem die Omas auf die Kleinen besonders „abfahren“, aber wenn eine ansonsten erprobt dauergrantige Kassiererin instantmäßig das Lächeln lernt, schon beim zweiten Besuch den Namen intus hat und vor Verzückung mit dem kleinen Wesen, das das überhaupt noch nicht begreifen kann, kontinuierlich verliebt turtelt – dann ist das schon etwas Besonderes!
Kaum konnte er Bewegungen koordinieren, griff er nach allem, was Kabel ist. Nicht nur, dass er – wie jedes Baby – in Erfahrung bringen muss, welche Konsistenz und welchen Eigengeschmack die Dinge haben: Kabel in jeder Hinsicht haben ihn magisch angezogen und tun das bis heute. Seine armen Eltern sind arg beschäftigt, ihn davon abzuhalten, Ladekabel unbrauchbar zu machen und stromführende Kabel zwar nicht seiner Begehrlichkeit, aber zumindest seinem Zugriff zu entrücken. Seit er laufen, sich strecken und langmachen kann wie auch Strategien entwickeln, ist alleine das Kabelthema zur Vollbeschäftigung ausgeartet.
Ein anderes anscheinend angeborenes Hobby für ihn sind Tablets und Handys. Da kann er richtig gnatschig werden, wenn er eines sieht, aber nicht bekommt. Ein von der Oma geschenktes „Kinderhandy“ mit Klingel- und Geräuschetasten war schnell als bloßes Spielzeug entlarvt und nicht mehr interessant.
Omas altes Dampfhandy flog nur so durch die Gegend und verstreute die Einzelteile überall unter die Möbel. Bis Oma ihm, heiser werdend, geduldig erklärte: „Vooorsichtig, gaanz voorsichtig!“ Da schaute er aufmerksam, legte nach dem 30. oder 40. Mal das alte Handy ganz sanft neben sich auf den Boden, schaute die Oma erwartungsvoll an und merkte an ihrer begeisterten Reaktion, dass dies wohl das erwünschte Vorgehen war. Probeweise warf er das klapprige Ding noch einmal von sich, aber das Testergebnis war eine Oma, die nicht so begeistert reagierte und außerdem, trotz seines Protestes, einen Tesafilmstreifen um die sich lösenden Schalen klebte. Da machte es doch mehr Spaß, die Oma zu entzücken und das Handy vooorsichtig, gaanz voorsichtig neben sich zu legen und dabei hintergründig zu lächeln.
Die freundliche Dame in der Vermittlung der Feuerwehr hatte Verständnis dafür, dass ein Baby von Mamas Handy aus die 112 gewählt hatte; es scheint, als gelinge es den „Digital Natives“ wohl öfter, Handys zu entsperren, rein durch Ausprobieren.
Das Erste, was Keeran sprechen konnte, war „Neinnein.“ Um seinen 1. Geburtstag herum hatte er es oft genug gehört, dass er es sich selber sagte, bevor er nach dem baumelnden Bändchen griff, das von der Kamera in Omas Hand herunterhing. Und er hatte recht: Oma und Mama lachten sich zwar kaputt, aber dieses verlockende Bändchen hieß ebenfalls „Neinnein.“
Ansonsten hält er sich bedeckt, was das Sprechen angeht. Er ist jetzt zwei, aber halt ein Junge. Wie es heißt, seien die gerne einmal später dran mit dem Reden. Zudem bekommt er drei Sprachen zu hören: Vom Papa Tamil, von Mama und Oma Deutsch, und wenn Mama und Papa miteinander sprechen, Englisch. Was er will, kann er prima auch ohne Worte sehr ein- und ausdrucksvoll klar machen.
„Mammam“ sagt er … zum Papa. Zum Leidwesen meiner Tochter ist sie zwar auch „Mammam“, aber eigentlich nur, wenn der Papa nicht da ist. Auch die Kinderkrippentante, die er stundenweise sieht, heißt „Mammam".
Sowieso hat er eine sehr innige Beziehung zu meinem Schwiegersohn, wenn der Papa da ist, haben alle anderen nichts mehr zu melden, da können sie sich noch so anstrengen.
Die ganze Zeit versuche ich, ihm ein „Omama“ zu entlocken. „Omama“ zur Unterscheidung von „Apa-i“, denn das wäre die Oma väterlicherseits. Jedenfalls hat er bei meinem letzten Besuch schon mal mit langem Arm auf seine Mama gedeutet, als ich mal wieder „Omama“ soufflierte.
Einmal, nachdem er sich vorbeitanzend löffelweise einen Joghurt von mir einverleibt hatte, bei jedem Löffel „Hmmm!“ lobend, intonierte er zum Ende schon mal „Hm-mama“ – entweder ein erster Versuch, eine „Omama“ irgendwie logisch in sein Denkgebäude einzubauen oder vielleicht als meinen neuen Titel bei ihm als „Joghurt-Oma“ … Goldig war auch, als sein Papa ihn mit der Flasche und dem Tamil-Wort „Pal“ zum Milchtrinken verlocken wollte – und Keeran ihm freudestrahlend einen goßen Ball brachte!
Er mag es gar nicht, wenn jemand den Raum verlässt, da will er unbedingt mit. Wahrscheinlich hat er Verlassensängste entwickelt, weil er schon in seinen ersten zwei kurzen Lebensjahren einige Trennungen verkraften musste. Monatelang konnte er seine Mama im Krankenhaus nur stundenweise besuchen (Kabel! Kabel!) und wenn sein geliebter Papa nach Indien musste oder – wie aktuell – auswärts arbeitet, ist er ja ebenfalls z. T. wochenlang weg, und selbst seine Apa-i musste nach 3 Monaten mit Touristenvisum wieder nach Indien zurück. Der kleine Mann hat einfach keine Garantie, dass alles so bleibt, wie er es gewohnt ist.
Wenn also die Oma den Raum verlassen will, ist das nicht in seinem Sinne. Da muss sie schon einen guten Grund angeben. „Oma muss Pipi“ ist ein guter Grund, den kann er nachvollziehen, auch wenn sie in Wirklichkeit nur ins Gästezimmer oder in die Küche will. Da beeilt er sich, vor der Oma herzulaufen – aber gar nicht, wie erwartet, um mit ihr zusammen den Raum zu verlassen! Nein, er läuft zur angelehnten Wohnzimmertür, öffnet sie weit, dreht sich um – und geht wieder spielen! Was Mama und Oma total begeistert, so ein kleiner höflicher Mann!
Auch nett der andere Fall, als die hustengeplagte Oma sich für ihr Heißgetränk einen Teelöffel aus der Besteckschublade holen wollte …
Kurzer Hintergrund: Der Süße konnte noch nicht in die Besteckschublade hineinschauen, öffnete sie aber im ersten Handgriff in der siegreich eroberten Küche, griff über seinen Kopf hinweg blind hinein, über die Teelöffel hin direkt in das Messerabteil – und das mit Begeisterung und sehr zielgerichtet bei jederm seiner Küchenausflüge (hier lasse ich mal aus, dass sein noch größeres Interesse den Schaltern des E-Herdes gilt, auf den er ebenso wenig schauen kann …). Bevor also wegen der Schneidwerkzeuge noch etwas Schlimmes passieren könnte, hatte meine Tochter die Schublade um die Ecke herum mit einem sehr haftfähigen Klettband gesichert, das man erst lösen musste, um dann die Schublade öffnen zu können.
Jetzt also stand die Oma mit der Hand an der Schublade, als sie den Zwerg bemerkte, der erwartungsvoll von der Seite schaute, was da jetzt wohl passieren sollte. Er sah die Oma zögern und die Hand wieder wegnehmen, denn sie wollte den Enkel ja nicht mit der Nase drauf stoßen, auf welche Weise sich dieser Tresor nun öffnen ließe. Da legte er den Kopf schräg, nach dem Motto: „Weißt du nicht, wie das geht?“, bekam einen verschmitzt-verschwörerischen Blick samt einem feinen Lächeln um die Mundwinkel, griff beherzt zu und löste das Klettband … für die arme Oma, um ihr zu helfen. Er ist so unglaublich pfiffig, zuvorkommend und freundlich!
Telefonieren meine Tochter und ich, höre ich ihn im Hintergrund spielen. Beim Verabschieden rufe ich: „Keeran, die Oma sagt Ciao-Ciao!“ Wie meine Tochter lachend kommentiert, winkt er dann dem Handy.
Heute haben wir geskypt. Voller Eifer holte er die zwei großen neuen Bilderbücher herbei, die der Postbote gerade frisch geliefert hatte, und zeigte plappernd ohne Worte ganz aufgeregt jede Seite in die Kamera. Er hatte schwer zu tun, denn die Bücher waren halb so groß wie er selbst.
Wenn er es nicht schon fest in beiden Händen hielte, hätte er mein Herz bei meinem letzten Besuch endgültig erobert.
Ich bin kein Freund davon, Kinder zu „überfallen“ und warte lieber, bis sie von selber kommen, auch wenn es dauern mag. Ebenso bei meinem Enkel; von vornherein habe ich ihn nie den Eltern aus den Armen gerissen, höchstens von klein auf bei meinem Eintreffen ihm mal ein Küsschen auf den Handrücken gehaucht, wenn sie ihn auf dem Arm hielten, so zur Begrüßung. Bisher hat es auch bei ihm immer etwas gedauert, bis er von selbst in meine Nähe kam.
Bei meinem letzten Besuch begrüßte mich meine Tochter wieder mit Keeran auf dem Arm, ich stand vor ihnen im Treppenhaus, beide Hände tragevoll – da warf sich mir todesmutig ein kleines Menschlein entgegen, umklammerte und drückte seine total wehrlos-verblüffte Oma und ließ sie so schnell nicht mehr los.
Mehr braucht es nicht.
© noé/2017