Prosaflug - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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zum Opfer gefallen, im Büro würde man bestens auch ohne mich zurechtkommen, Lea traf man nur noch selten zu Hause an, seit sie ihr Herz an einen brasilianischen Flugkapitän verloren hatte und unsere Eltern ruhten schon seit Ewigkeiten auf dem Friedhof. Sie werden es vermutlich nicht glauben, aber es waren ausgerechnet diese trüben Gedanken, die mich auf dem Sitz hielten.

„Gestatten, Clemens Volkmann“, machte sich mein Sitznachbar bemerkbar. „Ihr erster Flug?“ Er neigte amüsiert seinen Kopf zu mir herüber. Ich fuhr fort, unseren abwechslungsreichen Planeten zu betrachten und erwiderte teilnahmslos: „Angenehm. Ich heiße Janne Eriks. Und um Ihre Neugier zu befriedigen: Nein, keineswegs, ich bin schon einmal geflogen!“ Nach Sekunden stummen Staunens, ich nahm an, dass dies die letzte Antwort war, mit der er gerechnet hatte, weil ich nach wie vor wie vertrockneter Efeu im Herbstwind zitterte und bebte, hakte er mit sanfter Stimme nach: „Darf man fragen, wohin?“ –
„Auf den Schulflur“, entgegnete ich so souverän wie es meine Verfassung erlaubte. Ich fühlte seinen verständnislosen Blick über mein Profil huschen, weshalb ich mich bemüßigt sah zu ergänzen: „Aus dem Chemieunterricht.“ Volkmann brach in schallendes Gelächter aus, was die rothaarige Flugbegleiterin, die mit einem Servicewagen voller Getränke auf dem Gang hantierte, zum Anlass nahm, ihm einen feurigen Blick zuzuwerfen. Volkmann fragte: „Was um alles in der Welt haben Sie im Chemiesaal ausgefressen, Jane Eyre? Ein Glas mit Salpetersäure vom Labortisch gefegt oder gar die Bromflasche kreisen lassen?“ –
„Nichts dergleichen, Mr Rochester“, sagte ich ungerührt. „Man warf mir lediglich vor, provozierend gelacht zu haben. Was mich damals dermaßen erheitert hat, ist mir zwischenzeitlich entfallen. Die Sache liegt mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurück. ‑
Und Sie? Trägt Ihr makabrer Humor Sie sicher durch die Stürme des Lebens?“ ‑
„Gewiss, Miss Eyre“, grinste mein Nebenmann.
„Wie schön für Sie, Mr Rochester“, hauchte ich müde. ‑
„Sie kennen das Buch?“ ‑
„Ich kenne alle Bücher von Charlotte Brontë“, klärte ich Volkmann auf, „so viele sind es ja nicht. Ich erinnere mich sogar, diesen Schmachtfetzen während meines Studiums gelesen zu haben ‑ als ich unglücklich in einen Kommilitonen verliebt war.“ ‑
„Bin ich ähnlich hässlich wie Edward Fairfax Rochester?“, fragte Volkmann nach einer Weile.
„Das hätten Sie wohl gern“, grinste ich, wandte meinen Kopf zur Seite und betrachtete ihn. Das flaue Gefühl, dass sich während des Starts in meinem Magen eingenistet hatte, war noch immer nicht verflogen, obwohl der Flieger längst in der Horizontalen und ähnlich ruhig wie ein Ungeborenes im Mutterleib lag; aber aus unerfindlichen Gründen hielt sich mein Vertrauen in den silbernen Donnervogel und den braungebrannten, blendend aussehenden Flugkapitän nach wie vor erheblich in Grenzen.

Clemens Volkmann hatte mittellange dunkle Haare mit angegrauten Schläfen, große, moosgrüne Augen mit kastanienbraunen Tupfern, kräftige dunkle Brauen, eine Adlernase und schmale Lippen. Sein Teint war leicht gebräunt und von markanten Falten durchzogen. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig.
„Leider habe ich Mr Rochester nur im gleichnamigen Fernsehfilm erlebt“, ließ ich Volkmann wissen, „und dort war er alles andere als hässlich. Ich fand ihn sogar sehr sympatisch; um ehrlich zu sein, hat mich das Drama dermaßen intensiv in seinen Bann gezogen, dass ich unmittelbar danach, als ich mir einen Schlaftee aufbrühen wollte, die falsche Herdplatte angestellt habe. Was soll ich sagen? Ich hatte dort kurz zuvor ein Fonduegerät abgestellt, und es dauerte nicht lang, bis der Feueralarm erwachte. Die Herdplatte ließ sich nur mit drastischen Maßnahmen vom zähen Synthetikschleim befreien, und meine Wohnung stank trotz ununterbrochener nächtlicher Luftzufuhr noch tagelang nach verbranntem Plastik.“
„Tut mir leid für Sie, Jane“, sagte Volkmann, „aber sie haben’s ja Gott sei Dank überlebt. Und jetzt sagen Sie bitte: Finden Sie mich hässlich?“ ‑
„Ach, fragen Sie doch lieber die hübsche rothaarige Stewardess dort hinten auf dem jumpseat“, dämpfte ich seine Vorfreude. Sie gibt Ihnen gewiss die Antwort, die Sie hören wollen.“ ‑
„Ich möchte die Antwort aber viel lieber von Ihnen hören, Jane“, quengelte Volkmann. Ich trank einen Schluck Mineralwasser und sah auf meine Armbanduhr. Noch drei Stunden bis zur Landung. Solange würde ich sein Gesülze wohl oder übel ertragen müssen. ‑ Fliegen ist super und hochinteressant, nicht wahr, Lea?, dachte ich wütend. Weshalb saß ich nicht wie fast jedes Jahr im ICE, worin man wenigstens das Abteil wechseln konnte, falls nicht gerade Hochsaison war.
„Ist es nicht seltsam, Jane, dass wir uns im gleichen Stil unterhalten können, wie Charlottes Protagonisten?“, nahm Volkmann nach einer Weile das Gespräch wieder auf.
„Das liegt gewiss ganz allein an einem minimalen Talent für Schauspielerei und Improvisation“, erwiderte ich lakonisch.
„Mein Gott, Sie sind ja noch um einiges pragmatischer als das Original“, rief Rochester einen Tick zu laut – vermutlich brauchte er Publikum ‑, und berührte vertraulich meinen Arm. Ich schubste seine Hand weg und fauchte: „Halten Sie endlich ihren Mund, Clemens Volkmann, und lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin müde.“
Falls er gehofft hatte, ich würde auf seine romantische Schleimschiene aufspringen, hatte er sich arg in mir getäuscht.

Ich schlief ein und als ich erwachte, fiel mir sofort auf, dass ich nicht mehr zitterte; meine Angst war wie weggeblasen. Der Platz neben mir war leer. Er wird doch wohl nicht „ausgestiegen“ sein, ohne sich von mir verabschiedet zu haben, dachte ich drei Sekunden lang und empfand zu meiner Empörung ein diffuses Gefühl der Trauer ... bis ich ihn entdeckte. Er stand vor der Bordküche und schäkerte mit der rothaarigen Stewardess herum. Sie lachten und scherzten miteinander, als hätten sie schon vor Ewigkeiten gemeinsam in der Sandkiste Küchlein gebacken. Jetzt hat der alte Charmeur seine künftige Mrs Rochester gefunden, dachte ich amüsiert, ohne mich wirklich darüber zu freuen, würde mich nicht wundern, wenn sie Blanche Ingrim hieße. Mich überkam von einer Sekunde zur anderen das Verlangen, auf einer dieser flauschigen Lämmerwölkchen Platz zu nehmen, die der wuchtige Donnervogel links liegen ließ und nicht zerzauste und zerrupfte wie die stolzen Nimbusschwaden, die versuchten, die Flugbahn zu blockieren.

„Sie haben tief und fest geschlafen, Jane, eine halbe Stunde lang“, sagte Rochester und ließ sich auf seinen Sitz fallen.
„Ich bewundere ihre scharfe Beobachtungsgabe, Herr Volkmann“, spöttelte ich.
„Und Sie? Erfolg gehabt?“ Ich deutete mit dem Kopf auf die Flugbegleiterin mit der roten Lockenmähne. „Sie sind nicht zufällig eifersüchtig, Jane Eyre?“, fragte er. Ich hoffte, dass mein ironisches Grinsen seine Selbstüberschätzung dämpfte. „Verzeihen Sie, wenn Sie sich vorhin von mir belästigt fühlten. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Janne. Es geschieht äußerst selten, dass ich annähernd impulsiv reagiere. Das ist sonst gar nicht meine Art; aber seit ich neben Ihnen sitze, werde ich das Gefühl nicht los, dass uns irgendetwas verbindet, eine Art Seelenverwandtschaft.“ Er rückte näher an mich heran.
„Ach ja?“, fragte ich amüsiert, „und mit wem fühlen Sie sich sonst noch verbunden? Mit der rothaarigen Stewardess ... und mit wem noch?“ ‑
„Oh, Jane“, stöhnte Volkmann, „müssen Sie immer alles kaputt machen?“
„Kann man etwas kaputt machen, das gar nicht existiert?“, erwiderte ich.
„Weshalb wehren Sie sich mit aller Vehemenz dagegen, dass Sie mich sympathisch finden?“, fragte er. ‑
„Einbildung gehört nicht zufällig zu Ihren hervorstechensten Eigenschaften, Herr Volkmann?“, erkundigte ich mich wie beiläufig. ‑
„Oh mein Gott“, stöhnte er, „diese Frau ist kälter als ein Belugawal im Eismeer.“ ‑
„Das sind Warmblüter“, entgegnete ich kühl. „Und lassen Sie Gott aus dem Spiel. Der hat damit nichts zu tun.“

Mittlerweile wünschte ich mir, der Flug würde nie zu Ende gehen. Ich schob diese seltsame Anwandlung auf die kuscheligen taffen Wolken, die Petrus dem Donnervogel unermüdlich in den Weg scheuchte.
Rochester brütete irgendetwas aus; er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben, während ich voller Spannung neuen Kapriolen entgegensah.
„Wollen Sie mich heiraten, Jane?", fragte er wie aus heiterem Himmel.
„Sie können nicht heiraten, Edward“, erwiderte ich sanft. „Sie sind verheiratet ‑ mit Bertha Manson, die Sie wahrscheinlich bei sich zu Hause in Wuppertal in der Besenkammer gefangen halten. Bigamie ist in Europa verboten. Sollten Sie die Absicht hegen, sich einen Harem zuzulegen, würde ich Ihnen empfehlen, nach Swasiland auszuwandern. Dort können Sie sich nach Herzenslust austoben. ‑ Was ist eigentlich mit der armen Adèle passiert? Haben Sie das gute Kind in ein Elitepensionat in der Schweiz abgeschoben?“
„Falsch, Jane. Adèle weilt in Bayern, in einem katholischen Internat‑Kloster für Mädchen. Sie fühlt sich dort außerordentlich wohl.“
Er spielt seine Rolle gut, das muss man ihm lassen. Und das Buch hat er auch zu Ende gelesen,, dachte ich vergnügt.
„Also, Jane, wir landen bald. Ich erwarte Ihre Antwort, jetzt und hier. Im Übrigen wohne ich nicht in Wuppertal, sondern in Hamburg“, ließ Volkmann mich wissen. ‑
„Geben Sie mir Bedenkzeit, Mr Rochester“, flehte ich mit gespielter Hilflosigkeit. „Zwischen Himmel und Erde fällt man keine schwerwiegenden Entscheidungen.“

Die Landung verlief ebenso reibungslos wie der Flug. Als der Flieger auf seiner Parkposition verharrte, gab Volkmanns rothaarige Maid die Türen frei. Buongiorno, Roma! Geschafft!, dachte ich erleichtert. Ich war gerade dabei, mein Handgepäck aus dem oberen Fach zu hieven, als zwei Polizisten den Passagierbereich stürmten und Mr Rochester in die Mangel nahmen. Während ihm der ältere einen zerknitterten, rosafarbenen Haftbefehl unter die Nase hielt, zerrte der jüngere Rochesters schmale, sehnige Handgelenke auf den Rücken und fesselte ihn. Perfektes Timing, staunte ich lautlos.
„Was wirft man mir vor?“, erkundigte sich Volkmann, der seine Festnahme mit einer Gleichmut über sich ergehen ließ, die mir verdächtig vorkam. ‑
„Betrug und Bigamie in mehr zehn Fällen“, schnauzte der ältere Beamte ihn an. Ich sog auf das Schärfste die römisch-katholische Luft ein, die in den Passagierraum strömte. Um ein Haar wäre ich auf den Kerl hereingefallen. Ich strebte hinaus ins Freie, weg von Rochester und den Beamten. Die Fliegerei hatte ich überlebt. Das war die Hauptsache! ‑
„Sei nicht traurig, Jane. Wir sehen uns bald wieder, Ehrenwort“, rief Rochester mir nach. ‑ Wohl kaum, dachte ich, deutsche Zuchthausmauern sind härter als Kruppstahl. Hinein kommt man schneller als man denkt, aber vor der Zeit hinaus, ist fast unmöglich.

Die Silvesterparty war im vollen Gange. Ich stand an der Hausbar in Leas großem Partykeller und betrachtete die illustre Gästeschar: Piloten und FlugbegleiterInnen, soweit das Auge reichte. Mein schwarzer enger Samtrock und das schwarzseidene Top, das mit Myriaden von kleinen silbernen Fliegern bestickt war, fanden riesigen Beifall. Man hatte mich großmütig in den Kreis der Flugfreaks aufgenommen. Mir wäre um ein Haar das Sektglas aus der Hand gefallen, als ich inmitten des Trubels Mr. Rochester auf der Tanzfläche erspähte. Er wirbelte die rothaarige Stewardess herum, die gewiss Blanche Ingrim hieß und an meinem Jungfernflug teilgenommen hatte. Seit der Landung in Rom war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Rochester gedacht hätte, mal mehr, mal weniger erbost. Ich drauf und dran, die Party zu verlassen, als Lea neben mir auftauchte.
„Amüsierst du dich gut, Liebes“, fragte sie lächelnd.
„Was hat dieser Bigamist hier zu suchen?“, fragte ich aufgeregt und deutete auf Rochester.
„Aber Schatz“, säuselte sie. „Das ist unser bester Towerlotse. Warte, ich stelle ihn dir vor.“
„Nicht nötig“, wollte ich sagen, aber bevor ich die Flucht ergreifen konnte, steuerte sie mit Rochester, der Blanche Ingrim im Schlepptau hatte, auf die Bar zu.
„Meine Schwester Janne“, sagte sie. In ihrer Stimme lag so viel Stolz, dass ich kaum wusste, wie mir geschah.
„Hallo, Jane“, sagte Volkmann. „Sie sind mir noch eine Antwort schuldig. Zeit zum Nachdenken hatten Sie ja mehr als genug. Meine Schwester Iris kennen Sie bereits?“ Er deutete auf die rotmähnige Schönheit, die mich neugierig beäugte. „Sie hat unseren unvergesslichen Prosaflug begleitet.“ ‑
„Santa Fu ist absolut ausbruchssicher, Rochester“, fauchte ich wütend. „Oder sind Sie etwa schon Freigänger? Was soll diese verdammte Schmierenkomödie, Lea? Hier ist doch was faul,“ wandte ich mich empört an meine Schwester, die an jenem Abend einen auffallend liebenswürdigen Umgang mit mir pflegte.
„Sei nicht böse, Herzchen“, schnurrte sie. „Aber ich konnte dich doch nicht mutterseelenallein im Flieger sitzen lassen ‑ mit dieser Angst. Du hast ja schon während der Fahrt zum Flughafen wie Espenlaub neben mir gezittert.“ Mein hilfsbereiter Kollege Clemens hat sich angeboten, auf dich aufzupassen. Er wollte schon immer mal mit seiner Schwester fliegen. Wer hätte gedacht, dass er sich Hals über Kopf in dich verliebt. Wir wollten doch nur, dass du wundervollen, spannenden Flug erlebst. Das mit Clemens’ Verhaftung war ein Gag, zwei Kollegen, die sich gern verkleiden und heute leider im Dienst sind. Ich stelle sie dir bei nächster Gelegenheit vor. Und von wegen Heiratsschwindler: Clemens kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. ‑
Und dann schloss mich Rochester, dieser freche Kerl, doch tatsächlich in seine Arme und küsste mich ‑ vor Lea, Blanche und all diesen wildfremden Leuten ...

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Kommentare

07. Nov 2016

Wie im Flug verging die Zeit -
Witzig, originell, gescheit!

LG Axel

07. Nov 2016

Man dankt, Eure Exzellenz!

LG Annelie

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