Die alte Straße, Richtung Bonaria.
So wenig Verkehr, dass man die Spatzen hören konnte. Dazu diese siebenmonatige Sonne.
Wie oft war sie in Versuchung gewesen, sich in ihrer Wärme einfach mit dem Rücken an den Drahtzaun zu setzen, der das unbebaute Grundstück umgab, und stumm Teil der Natur zu werden.
Die breiten, gegossenen Zementplatten des Gehweges mit ihrem Waffelmuster waren an den Ecken schon leicht abgebröselt, einige gesprungen. Und aus den Sprüngen bahnten sich Gräser ihren Weg ins Licht.
Die Straße mit den vielen Flickpolstern führte in ihrer beginnenden Verwahrlosung zur Kirche, die wie eine riesige Sahnehaube über der Bucht thronte, machte dort eine Kurve, indem sie die Treppenkaskaden horizontal in zwei Teile schnitt, und verjüngte sich. Nun ging es steil hinab unter dem Schatten der Alleebäume. Die Brandungswellen des Straßenverkehrs schienen aus einer anderen Gegenwart zu kommen.
Hier herrschte immer noch dörfliche Idylle. Links geschlossene Fensterläden, Erker, von unbelebten Balkonen gekrönt, vereinzelt ein von der Wand abstehendes Trockengestell mit ein oder zwei Handtüchern. Rechts die hohe Mauer, den ganzen Weg ab der Kirche bis zum Ende des Gefälles. Dort, diagonal zur Ecke, der gemauerte Eingang, den sie nie durchschritten hatte.
Als sie noch nicht wusste, dass sich dahinter der Friedhof verbarg, dachte sie an ein Gefängnis. Auch die Vorstellung, dass es der Eingang zu einem Labyrinth sein könnte, schien ihr nicht abwegig. Dennoch hatte ein geheimer Respekt vor diesem zurückgebauten Tor ihre natürliche Neugier stets erstickt. Wie nah sie der Realität mit ihren Gedankengängen kam, wurde ihr erst später klar.
Inzwischen wusste sie aus Erzählungen, dass die Toten dort nicht in der warmen Erde ruhten, sondern in Schubfächern, übereinander, nebeneinander, jedes mit einer versiegelten Stirnplatte aus Marmor, zwei Steckvasen und einem kleinen Vorsprung für ein Ewiges Licht.
So manches Mal war sie an der Ecke rechts abgebogen, in Richtung Piazza Repubblica. Dort, vor dem Gericht, im baumbeschatteten Halbrund, standen stets besetzte Bänke um einen moosigen Springbrunnen und Kinder spielten Ball. Kurz vor diesem Platz war einer der Lebensmittel-Supermärkte der Stadt, kurz danach der Sitz der Inselzeitung "L'Unione Sarda". Noch weiter geradeaus kam sie irgendwann zum Kaufhaus "upim" und davon links, die Via Tiziano entlang, zum Platz mit der Markthalle und dem leichten Fleisch-Verwesungsgeruch, ringsherum die unzähligen überladenen Stände mit Kleidung, Schuhen aller Größen, Tellern, Tassen, Knöpfen, Spielzeug, bunten Tüchern und Bändern, roten Gladiolenschwertern und den allgegenwärtigen Nelken jeder Farbgebung.
Lieber noch aber folgte sie dem anderen Weg, der Verlängerung der eben bewältigten Gefällstrecke ab der Kirche Bonaria. Vorbei am örtlichen Radiosender und der Elektrizitätsverwaltung "Enel" stürzte sich diese Straße in das Verkehrschaos der Via Roma entlang dem Hafen.
Die Palmen und Büsche des Grünstreifens waren das Erste gewesen, auf das ihr Blick fiel, als sie vor Jahren im Hafen ankam, und es schien ihr damals wie eine Heimkehr. Seitdem hielt sie sich am liebsten in der Via Roma auf, der dreispurigen, die in Stoßzeiten vierspurig befahren wurde. Trotzdem ging es dann nie schneller als Stop-and-Go und nutzlose Ampeln wurden fotogen durch virtuos wirbelnde Weißuniformierte mit Tropenhelm und weißen Handschuhen ersetzt.
Zu solchen Zeiten liebte sie es, die in ihren fahrbaren gläsernen Käfigen Gefangenen zu beobachten, gerade weil sie sich so unbeobachtet fühlten. Von den Kolonnaden aus, im Kühlen am Caféhaustisch, malte sie sich häufig Geschichten aus, warum dieser oder jener Mensch aus wohl welchem Grund wohin gerade jetzt unterwegs war.
Wenn sie sich nicht entschied, durch die Fußgängerzone Via Mannu bergauf wieder in Richtung ihrer Wohnung zu steigen, wählte sie die Strecke noch weiter geradeaus, entlang der Via Roma, vorbei am Eck-Kaufhaus "La Rinascente", weiter am Rathaus vorbei, das weiß und kolonialherrschaftlich mit Zuckerbäcker-Doppeltürmen genauso gut in Brasilien oder Mexiko hätte stehen können, hin zum Lieblingskiosk am winzigen Bahnhof.
Am Busbahnhof, unter schattenspendenden Bäumen vorbei, nahm sie den Weg zurück auf der anderen Seite der Via Roma, ohne Gehweg am eingezäunten Hafen entlang, zwischen parkenden Autos und über Schienenstränge; hier war es ruhiger. Auf dem Stück zwischen dem Fährhafen und dem Yachthafen vor dem Enel-Gebäude, landeten die Fischer ihre Fänge an. Während einige auf Straßenniveau von Klapptischen her Passanten frische Seeigel mit Zitronensaft verkauften, saßen andere Fischer einige Stufen tiefer zum Wasser hin auf den Steinen und flickten stumm und in ihre Arbeit vertieft ihre Netze.
Die tiefe Ruhe übertrug sich auf sie, wenn sie nur lange genug zusah. Sie nahm sie in sich auf und trug sie langsam die Steigung hinan, am Friedhof und der Kirche vorbei, nach Hause, hinaus aus dem Verkehrsgetümmel in den relativen Frieden ihrer vier Wände.
noe/Aus längst vergangener Zeit ...
Kommentare
Ein "Reise" - Bericht,
Der zutiefst besticht...
LG Axel