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Caloundra an der Ostküste Australiens vor knapp einem Monat. Was neu war, war die Frage nach den eingenommenen Tabletten in den letzten Tagen. Seit meinem Herzinfarkt 2002 nehme ich 4 Tabletten täglich. Ich überlegte etwas, trug sie dann aber ein. Der junge Jan aus Hamburg hatte die Anweisung, in solchen Fällen den Vorgesetzten zu fragen. Dieser kam, las und sagte: "Das Präparat mit der Endung ..lol ist ein Betablocker. Wir sind angewiesen, in solchen Fällen keinen Tauchgang zuzulassen". Ich war etwas enttäuscht aber nicht zu sehr. Das war Fügung, ich bin kein Unterwassermensch und sollte keiner werden.
Jan wollte mich trösten und meinte, dass das Schnorcheln am Riff eine gute Alternative ist, wir werden tolle Dinge sehen. "Hier reicht es, dass man eine Taucherbrille auf hat und die Nase unter Wasser."
Anmerkung
Betablocker hemmen das Stresshormon Adrenalin und senken die Ruheherzfrequenz. In einer Abhandlung fand ich folgendes: "..Taucher darauf hinweisen, dass extreme Belastung gemieden werden sollte. Obwohl es für moderne Betablocker nur eingeschränkt gilt, kann es bei starker körperlicher Belastung zu Kreislaufproblemen kommen. Als extreme Belastung gelten Tauchgänge gegen Strömung, in Tiefen größer 40 m, bei Kälte und wenn größere Schwimmstrecken bewältigt werden müssen."
Man war also in meinem Fall sehr vorsichtig in dieser Beziehung. Wir sollten im 28 Grad warmen, strömungsfreien Wasser, in einer Tiefe von einigen Metern mit einem Taucher an der Hand langsam durch´s Wasser geführt werden. Wie dabei eine starke Belastung auftreten soll ist mir unklar.
Ich war nicht all zu sehr enttäuscht. Gullan nahm es sportlich und sah ganz zufrieden aus. Schnorcheln ist ja auch etwas, was wir noch nie gemacht hatten. (Den bezahlten Preis für den Tauchgang bekamen wir später in Airlie Beach wieder zurück.)
Es gab ein leichtes Frühstück bestehend aus Zwieback, Käse und Kaffee. Danach gingen wir hinaus auf´s Deck und genossen den schönen Blick auf das jetzt offene und ziemlich glatte Wasser.
Ich war gespannt wie die Riffe aussehen würden, die ja gleich auftauchen mussten. Als wir türkisblaue Flecken am Horizont sahen wussten wir: Das sind einige der 3000 Korallenriffe des 2300 km langen Great Barrier Reef. Deren Oberflächen lagen nur einige Dezimeter unterhalb des Wasserspiegels.
Wir näherten uns dem Hardy Reef und sahen in der Ferne den großen Ponton, an dem wir bald anlegen sollten. Diese schwimmende Insel war jeden Tag vier Stunden bevölkert von einigen hundert Touristen, die einen kleinen Einblick in die bunte, lebende Unterwasserwelt dieses gigantischen, von kleinen Lebewesen erschaffenen Korallenriffsystems erhalten wollten.
Bereits an Bord des Schiffes hatten wir Informationen und Instruktionen erhalten. Als alle 215 Passagiere auf den Ponton hinübergewechselt waren, begann eine kurze, hektische Betriebsamkeit. Die allermeisten der jungen Leute wollten schnorcheln (viel billiger) und hatten es eilig, den obligatorischen Schwimmanzug und die Schwimmflossen anzuziehen. Dann noch die Taucherbrille an und das richtige Ende des Schnorchels in den Mund und ab ins Wasser. Angestellte Helfer standen bereit.
Hier hatte ich eine Phase, wo ich mich am falschen Platz wähnte. Bald wurde es etwas ruhiger um uns herum und Gullan nahm sich einen Anzug und ging in die Umkleidekabine. Ich war innerlich noch nicht ganz fertig und stieg die steile Treppe hinab in einen Raum mit Glaswänden. Hier kam die Wende: Ich sah hunderte von Fischen in verschiedenen Farben und Größen hinter den etwas milchigen Scheiben. Einige richtig große glitten langsam wie dunkle Schatten vorbei. Auch einen dieser großen Meeresschildkröten sah ich in majestätischer Langsamkeit vorbeischweben.
Ich war begeistert und hatte es plötzlich eilig ins Wasser zu kommen. Ich nahm einen Schwimmanzug von der Stange und hoffte, dass er passen würde. Von Gullan war nichts zu sehen. Ich war jetzt einer der wenigen, die noch an Bord waren. Ich merkte bald, dass es nicht ganz so einfach war, in den hautengen Anzug zu kommen. Durch die windlose Wärme waren die Beine etwas feucht. Das linke Bein bekam ich relativ schnell hinein, beim rechten gab es Probleme. Kein Helfer in Sicht. Da kam Gullan im schneidigen, schwarzen Dress um die Ecke. Sie löste mein Problem mit dem rechten Bein. Sie erkannte sofort, dass ich versuchte mit dem Fuß in den herunterhängenden Ärmel zu kommen. Es gibt Situationen, da kommt man sich so richtig blöd vor. Das war so eine.
Ich machte ein Foto von Gullan in ihrem schicken, eng anliegenden Gummidress.
Da kam eine Frau vorbei und fragte, ob sie eins mit uns beiden machen sollte. "Ja, bitte! Wir brauchen einen Fotobeweis für die nachkommenden Generationen."
Jetzt wurde es aber Zeit, dass wir endlich ins Wasser kommen. Schwimmflossen, Brille und Schnorchel an, ein freundlicher junger Mann hilft uns ins Wasser.
Wie gesagt: Gullan und ich hatten keinerlei Schnorchel-Erfahrung. Vom Ponton und zum Korallenriff waren Seile gespannt, an denen man sich entlanghangeln konnte. Hier war es leichter, die verrutschte Brille oder den Schnorchel wieder zurechtzurücken. Ich hatte es aber bald heraus und konnte die Nase immer länger unter Wasser halten, entspannt atmen und schauen.
Nun begann die Stunde, die ich nicht mehr vergessen werde. Ich lag entspannt auf dem Wasser, schlug leicht mit den Flossen, um nicht von der Gezeitenströmung abgetrieben zu werden und schaute und schaute und schaute... Die Umstände erlaubten nicht den Mund dabei zu öffnen.
Bunte Korallen und Fische in verschiedenen Farben und Formen, und du bist sozusagen mittendrin. Wenn man die Hand ausstreckte, kam auch gleich ein Fisch und schnupperte am Finger. Die Fische haben ihren Lebensraum am Riff und zwischen den Korallen ihre Verstecke. In größeren Öffnungen lauerten größere Fische auf Beute. Das Riff fällt hier ca.10 Meter steil hinab bis auf den Boden des Plateaus. Unter mir sah ich mehrere Taucher mit ihren Schützlingen an der Hand. Ich redete mir ein, dass deren Eindrücke nur minimal größer sind.
Ich lag ungefähr 20 Minuten so auf der Wasseroberfläche, bewegte mich nur langsam am Riff entlang und hatte Gullan und alles andere vergessen. Jetzt fiel sie mir wieder ein, ich drehte den Kopf nach oben und sah sie ein Stück weiter mit der Hand an einem Seil. Sie hatte leider immer noch Probleme mit dem Atmen durch das Rohr und dem Verrutschen der Brille. Aber sie versicherte mir, dass sie mehrere Male lange genug mit dem Gesicht unter Wasser war und die farbige Welt unter sich gesehen hat. Sie hat sogar eine Koralle mit dem Finger berührt. Unabsichtlich natürlich, man hatte uns ja informiert, dass dies verboten ist.
Ich "tauchte" wieder ab und hatte noch zwei weitere Beobachtungssessionen. Während der letzten hatte ich ein glückliches Zusammentreffen. Ich schwamm gerade langsam auf einen Schwarm etwas größerer Fische zu und sah gleichzeitig einige Meter vor mir eine dunkle Gestalt auftauchen, die mit beiden Händen einen großen Kasten vor sich hielt. Ich verstand sofort, dass es sich um einen Unterwasserfotografen handelte. Diese fotografieren hauptsächlich Personen, die sich einige Meter unter der Wasseroberfläche befinden. Karin und Anders wurden so fotografiert. Die zwei Bilder, die sie gekauft hatten und uns zeigten, trugen dazu bei, dass wir auch zum Riff fuhren. Der Fotograf wollte wohl gerade Feierabend machen. Er gab mir ein Zeichen, dass er Bilder mit mir und den Fischen machen wollte. Das war ein Glücksfall. Später an Bord kaufte ich zwei Bilder dieser Serie.
Jetzt war ich schon ziemlich lange im Wasser und der Platz zwischen Riff und Ponton wurde immer kleiner aufgrund der fortschreitenden Ebbe. Außerdem wurde es mir so langsam kalt obwohl die Wassertemperatur an der Oberfläche so an die 30 Grad war. Aber der Körper ist noch wärmer und gibt ständig Wärme ab.
Ich fand Gullan, sie war auch noch im Wasser, an einem der Seile. Sie hat sich tapfer gehalten und ich hatte ein schlechtes Gewissen, da ich mich so wenig um sie gekümmert hatte. Zusammen gingen wir wieder an Bord.
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Für mich waren diese anderthalb Stunden im Wasser am Hardy Reef das größte und emotionalste Abenteuer/Naturerlebnis unserer vier Australienreisen von zusammengerechnet einem Jahr. Höhepunkte wie die Tage am mächtigen mystischen Uluru inmitten der roten Wüste, der Fallschirmsprung in Caloundra, das Durchschwimmen der imposanten Kathedralen-Höhle "Remarkable Cave" in Tasmanien, das Warten auf die Pinguine in Eaglehawk Neck, ebenfalls Tasmanien, die zwei Wochen in einem Haus an einem alten Vulkan in der Einöde, die Fahrt auf der Great Ocean Road im Süden Australiens, die eindrucksvollen Wanderungen auf einsamen Stränden und in den großen Städten Australiens und Neuseelands und in deren prächtigen Parks und Botanischen Gärten und, und.. teilen sich die Plätze dahinter.
Noch einmal zurück zu David Attenborough. Er ist jetzt 90 Jahre alt, hat sein Leben gewidmet uns mit großartigen Filmen die Natur näherzubringen. Und tut es immer noch! Im ganz oben erwähnten Film wird er gefragt, welcher Platz auf der Erde ihn nach allen seinen Reisen am meisten fasziniert. Er zögerte nicht mit der Antwort: "Das Great Barrier Reef in Australien!"
*
Wir fanden unsere Sachen noch an der Stelle, wo wir sie hingelegt hatten. Es gab dafür keine besondere Räumlichkeiten. Entsprechend zerstreut lag alles herum. Es war jetzt Essenszeit auf dem Schiff. Wir waren aber noch nicht hungrig und hatten es nicht eilig. Als wir dann schließlich in den Essraum gingen, war das Personal gerade dabei das Buffet abzuräumen. Wir hatten zwei Äpfel dabei. Das musste reichen bis zum Kaffee später bei der Heimfahrt.
Die Ebbe war jetzt fortgeschritten und nur noch wenige Schnorchler waren im Wasser.
Bei Ebbe wird die Fläche für die Schnorchler immer kleiner und das Riff taucht mehr und mehr aus dem Wasser auf. Die farbenprächtigen Polypen an den Korallenspitzen sind dann nicht zu sehen, sie ziehen sich zusammen.
Die Rückfahrt nach Airlie Beach begann. Unsere anfängliche Skepsis zu diesem Ausflug hat sich gewandelt zu der Gewissheit, dass sich der lange Anfahrtsweg von Åmål in Schweden bis hierher gelohnt hat. Jetzt verstand ich Tochter Karins spontanen Ausspruch ("Ich bin glücklich") nach ihrem Tauchgang am Riff besser.
Bereits nach kurzer Zeit, wir fuhren immer noch entlang des Hardy Reef, gab der Kapitän eine Mitteilung durch den Lautsprecher. Er wird gleich einen kurzen Stopp einlegen um uns die Gelegenheit zu geben, ein besonderes Naturereignis zu beobachten: Eine Springflut.
Die Springflut entsteht durch besonders starke Gravitation, wenn Sonne, Mond und Erde sich auf einer Geraden befinden. Das hatten wir heute, es war Vollmond.
Normalerweise ist eine Springflut eine eher unauffällige Erscheinung, bei der das Hochwasser nur einige Zentimeter höher aufläuft als normal. In schmalen Buchten oder wie hier an einer Vertiefung des langen Riffs kann es dabei zu einer sichtbaren Gezeitenwelle kommen, so dass die Springflut ausnahmsweise als Naturereignis unmittelbar sichtbar wird. Es war vielleicht nicht so besonders spektakulär. Das Besondere ist der Seltenheitswert.
Die Rückfahrt verging gefühlt schneller als die Hinfahrt. Wir saßen an Deck und genossen die Fahrt. Sie führte uns ja durch die Inselwelt des Insel-Nationalparks "Whitsundays" und war ein Erlebnis für sich.
Als das Schiff wieder am Abel Point in Airlie Beach anlegte, ging die Sonne gerade unter.
Wir verzichteten auf die Busfahrt zu unserer Wohnung und genossen stattdessen den romantischen Spaziergang im Mondlicht entlang der Strandpromenade.
Wir waren uns einig: Dies war ein besonderer Tag.
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© Willi Grigor, 2013 (rev. 2016)
Zugehöriges Gedicht:
literatpro.de/gedicht/090616/am-great-barrier-reef