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Als Bernd Bernsen seine Brille beiseite legte, ließ die Sonne, die sich durch den dichten Gardinenstoff zwängte, kleine Punkte über sein Gesicht springen. Wenn er genau hinhörte, so konnte er die Zeit am verstärkt einsetzenden Verkehrslärm messen, der seinen Höhepunkt mit Brummen, Heulen und Scheppern so gegen fünf, also in einer Stunde, erreicht haben würde. Bernd stützte seinen kräftigen Körper auf der Schreibtischplatte ab, schob dann mit den Armen nach und kam mit einem gewaltigen Schwung zum Stehen. Rasch lief er die fünf Schritte um den Schreibtisch herum zum Fenster, riss die Gardine mit einem Ruck beiseite, und während die Hitze seinen Körper umklammerte, lehnte er sich weit über die Brüstung, so dass sich der Oberkörper im Freien befand. Heftig wedelte er mit den Armen, um einer jungen Frau zuzuwinken, die, mitten auf der Fahrbahn, gestikulierend, wartend, dann eine Chance wahrnehmend, grad die Bordsteinkante erreichte, als ein metallicfarbener BMW vorüber preschte. Bernd humpelte hastig zur Türe.
Herrje, wie hatte er sich schon als kleiner Junge über sein steifes Bein geärgert. Er erinnerte sich, wie oft seine Mutter neben seinem Bett saß und ihm Geschichten vorlas. Und wie gerne er das Märchen vom Hans im Glück hören wollte, denn da war ein Junge, der in die weite Welt hinauszog, der so gesunde Beine hatte, dass er Stunden um Stunden laufen konnte, ohne müde zu werden.
Wie war das noch damals? Hatte seine Mutter nicht beim Lesen Worte verschluckt? Und hörte sich das nicht an, als müsste sie krampfhaft ein Weinen unterdrücken? Und wie sie abrupt aus dem Zimmer rannte, und er nicht aufstehen konnte, um nach ihr zu sehen. Und wie sich dann erst eine Verzweiflung in ihm breitmachte, um sich anschließend in Wut umzuwandeln, Wut über das Bein, das sich einfach nicht bewegen ließ. Nun, er war damals einfach zu klein, um die Worte des Arztes zu begreifen, der von Knochentuberkulose sprach.
Zu alledem hatte Bernd nur ein linkes Auge und dort, wo das rechte seine Sehkraft und Schönheit hätte vervollkommnen können, war bei ihm nur eine Vertiefung mit einem winzigen changierenden Loch. Oje, als er sich dann das erste Mal bewusst im Spiegel betrachtete, da mochte er sich nicht erkennen. Dabei nahm er die kleine Brille ab, deren rechtes Glas eine Verspiegelung besaß und dadurch für den Betrachter undurchschaubar wurde, stellte sich in einem unbeobachteten Moment vor den großen Garderobenspiegel, und im Dämmerlicht der kleinen Diele blickte ihm ein halbes Kindergesicht entgegen. Die andere Hälfte erschien wie ein Fragment, hingeschludert von einem Künstler, dessen Kunstliebe sich im Formen der linken Gesichtshälfte erschöpft hatte und der sein unvollkommenes Werk ins Leben warf.
>Bitte setze die Brille erst ab, wenn du zu Bett gehst<, hatte ihm die Mutter eingeschärft. >Du musst sie immer tragen, hörst du, immer, als wäre sie dir angewachsen.<
Da stand der kleine Kerl bewegungslos vor seinem Spiegelbild, und die fortschreitende Dunkelheit schluckte immer mehr von seinem ihm so ganz und gar bewusst gewordenen Unglück. Und während er weinte und seine linke Gesichtshälfte nass und nasser wurde, bekam er panische Angst, das linke gesunde Auge könnte ihm mit all seinen Tränen herausgewaschen werden.
Als die Mutter ihn entdeckte, nahm sie ihn in den Arm, führte ihn in sein Zimmer, griff nach dem Stoffhund, klebte ein Pflaster auf sein rechtes Auge und setzte ihm die Brille auf.
>Nun<, bemerkte sie, >ist er nicht immer noch schön? Und wie gut die Brille doch zu ihm passt.<
Von nun an gab es zwei Brillenträger in der Familie, denn Vater und Mutter verfügten über eine ausreichende Sehkraft, und die von ihm so heiß ersehnten Geschwister stellten sich nicht ein.
Im Laufe der Zeit wechselte Bernd mehrmals die Brille, da sie sich der zunehmenden Gesichtsgröße anzupassen hatte. Mal war sie farbig, dann rund mit schmalem Metallrand, und zuletzt wurde sie von einem dicken Hornrand gehalten.
Ach, wieviel Kummer ihm schon die kleine runde machte, doch dabei war es doch erst seine zweite. Sie wurde ihm im Kindergarten mehrmals vom Gesicht gerissen. Und wie er dort stand, mit einem so nackten Gesicht, da wurde gegafft, gelacht oder verschämt weggeschaut. Dann verwandelte sich der Boden unter ihm urplötzlich in einen Scherbenhaufen auf dessen Spitzen und Kanten er seine Standfestigkeit verlor. Und seine Wut machte sich durch Schreien, Spucken und Boxen Luft, denn er konnte nun mal besser keilen als laufen.
Wie lange mag so ein kleiner Kerl das mitmachen?
Bei ihm reichte die Geduld über zwölf Tage.
Am Morgen des dreizehnten Tages kam’s zum Krawall.
>Aufstehen. Mach schon, es wird Zeit<, drängte die Mutter.
>Ich will nicht!< schrie er los und umklammerte den Stoffhund. Als die Bettdecke weggezogen wurde und der nasse Waschlappen auf seinem Gesicht landete, veranstaltete er ein Riesengeschrei. Wieder ein ermüdendes Spiel, bei dem die Ausdauer den Sieger stellt. Bald darauf hatte Bernd den Kindergarten vergessen.
*
Die Sonne blendete. Sandra Melzer hatte Bernd Bernsen’s Bewegung am Fenster nur schemenhaft wahrgenommen. Nun überquerte sie die Straße. Wenn sie lief, dann war darin so viel Schwung, dass die Spitzen ihrer Haare rhythmisch auf den Schultern hüpften. Plötzlich blieb sie stehen und betrachtete eine Taube, die zwischen Bordsteinkante, Autos und Passanten hin und her trippelte. Trotz verkrüppelter Füßchen schaffte sie es, den Autos und zahllosen Beinen rechtzeitig auszuweichen. Ob man sie einfangen sollte? Und was, wenn sie in Panik geriet und gegen ein Auto flöge?
Sandra bestand darauf, dass Mitgefühl ein wesentliches Geschütz im Überlebenskampf der menschlichen Gesellschaft sei. Ohne Mitgefühl, davon war sie überzeugt, würde sich die Spezies ‘Mensch‘ nicht halten können, also gäb’s eine Zukunft nur in den Träumen.
Sandra schaute der humpelnden Taube nach, so wie sie damals Bernd nachgesehen hatte, als er, durch betont lockeres und ruhiges Laufen, seine Behinderung zu überspielen versuchte.
Sie durchschaute seine Großspurigkeit. Wenn er sich wieder einmal mit zu lauter Stimme erhitzte: >Blödsinn, du kommst nur durch, wenn du dich anpasst. Schau sie dir an, diese Supermänner. Was haben sie für ein Lebensrezept? Wenn du so leben willst, dann mach’s wie sie, denn denen geht’s, das wirst du nicht abstreiten können, denen geht es immer gut.< Dann schaute sie ihn an. Ruhig sah sie zu, wie er mit Grobheit und Arroganz seine Unsicherheit zu