Brille mit Hornrand - Page 2

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von Monika Laakes

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vertuschen versuchte. Sie glaubte an die Macht der guten Gedanken. Sie war sicher, wenn sie nur intensiv genug an ihn dächte, dann müsste dieser kräftige Gedankenstrom zu ihm überfließen.
Nun hatte sie die Buchhandlung erreicht, von der sie immer, wenn sie Bernd besuchte, magisch angezogen wurde. Sie blieb stehen. Mit einem Blick die Auslage gestreift, kurz ihr Spiegelbild erfasst, zurück zu den Büchern, die sich innerhalb der Gestalt befanden.
In Jeans-Höhe – Max Frisch, in Taillenhöhe zur Bluse hin – Lenz’sche Erzählungen, darüber in Kopfhöhe – Kundera. Sie mochte sie alle, aber Kundera, den hatte sie zuletzt gelesen. Sie liebte die muntere Art, wie er Menschen beschrieb. Und über die Länge seines Romans steckte sie mitten in dieser fiktiven Welt. Manchmal nahm sie einen Bleistift und rahmte wichtige Passagen ein. Kundera bestärkte sie in ihrer Theorie. ‘Mitgefühl, das höchste aller Gefühle‘ hatte sie in seinem Buch so dick unterstrichen, dass die Stelle unleserlich geworden war.
Sandra konnte und wollte nicht verstehen, dass Bernd ihre Begeisterung ablehnte. Einfach nur, weil er nicht an die Beständigkeit einer solchen Denkweise glaubte.
>Samaritermasche<, so sein Kommentar.
>Was stört dich daran?< hatte sie gefragt.
>Ach, nichts ist echt daran. Denk doch mal nach. Kann das, was sich gegen die eigenen Bedürfnisse richtet, dauerhaft sein? Mitgefühl, Selbstlosigkeit, um etwas leiden, was nicht die eigene Person betrifft, sag mir nur nicht, dass das Bestand hat. Wenn du das behauptest, ist das Heuchelei.<
Er zuckte mit den Schultern, und sein Lächeln erinnerte an eine intensive giftige Sonne. Sie musste davonlaufen, weil sich ihr Kopf in eine Glühlampe zu verwandeln drohte und weil in ihrem Magen die Wut wie ein Zentnergewicht lastete. Wie gerne hätte sie ihm in so einem Moment diese arrogante, undurchschaubare Hornbrille vom Gesicht gerissen.
That’s my way – so nannte er seine Unnahbarkeit.
Jetzt zählte Sandra ihre Schritte bis zu dem Haus, dessen Türschnäpper defekt war und somit jedermann Zutritt gewährte. Achtzig. Sandra lehnte sich gegen die Glastüre, deren öffentlicher Charakter den Blick aufs Treppenhaus, hell gefliest, sachlich, auf einen Personenaufzug vorn links und auf mehrere Praxisschilder freigab.
Heute hatte sie unentwegt gezählt. Erst die Autos, dann Tauben, die Menschen mit Brillen, Bücher…
Ketten von Zahlen.
Dreißig!
Bernd im Türrahmen. Lächelnd.
Nach dreißig Stufen erblickte Sandra ein Männergesicht, dessen linkes Auge so sehr lächelte, dass es für das fehlende rechte mitleuchtete.
Sie vergaß das Zählen während sie dreißig Treppen abwärts rannte, die Türe nach innen aufriss, und ihre dumpfen, klatschenden Schritte sich mit dem Straßenlärm vermengten.
*
Bernd stieß mit dem Fuß gegen die Türe, so dass beim Zuschlagen der Metallrahmen vibrierte und aus der Wand zu brechen drohte. Im Lauf riss er mehrere Bücher vom Regal, warf einen Stuhl um und stellte mit Erstaunen, Bestürzung und Trauer fest, es hatte sich wiederholt.
Wie ist es nur möglich, dass sich derlei Widrigkeiten innerhalb eines Lebens wiederholen? Hatte er sich nicht genug davor geschützt. Sein Vorsatz, nie, aber auch nie mehr dürfe ihm so etwas zustoßen, hatte sich nicht erfüllt.
Er dachte an damals. Wie hatte er das nur ausgehalten? Hatte er wie ein Stier losgebrüllt und getobt und alles, was ihm unterkam, kurz- und kleingehauen?
Da war doch damals sein Freund, sein bester Freund, dem er bedingungslos vertraute, bis…
Bis zu dem Tag, als es geschah.
Es war an jenem Sommermorgen, als er den Mut aufbrachte und die Brille absetzte. Es war so schön, wie der Freund ihn ansah und dabei kein Wort sprach. So still war es, dass man glaubte, den Sommer zu hören. Es war so schön, wie der Freund seine Schultern umfasste und sie dort auf der Treppe saßen und nie mehr aufstehen wollten. Dabei hatte er die kleine Brille in der Hand, und seine Nase war von dem ständigen Druck des Brillengestells befreit. Wie hatte er das genossen, bis, ja bis es geschah.
Es wurde ein drückender Nachmittag. Nach dem Essen dribbelte Bernd einen Stein die Straße hinunter. Bis zur Ecke, an dem Schulhof vorbei, an dessen Eingang eine mächtige Kastanie ihren Schatten warf, weiter die Mauer entlang.
>He Bernd, ich hab auf dich gewartet<, hörte er seinen Freund.
>Ich weiß<, tönte er zurück, denn diese Stelle war ihr altvertrauter Treffpunkt nach der Schule.
>Kommst du mit? Da ist einer, der will’s mal sehen.<
Die Jungen ließen den Stein zwischen sich hin und her sausen.
>Warum?<
>Ich hab’s versprochen. Er ist ein Freund von mir. Und weil du mein Freund bist und er auch, darf’s keine Geheimnisse zwischen uns geben.<
Die Jungen umfassten ihre Schultern und stampften und prusteten wie eine alte Dampfmaschine die Mauer entlang, vorbei an der Kastanie, in den hinteren Bereich des Schulhofs. Dort, wo die Mauer einen Knick machte und in einen Maschendrahtzaun überging, lehnte er. Ungefähr einsvierzig groß und von ihnen der Längste.
>Dann zeig’s mal<, zischelte er durch die Zähne.
Und Bernd fasste mit der rechten Hand nach der Brille, während die linke auf der Schulter des Freundes ruhte.
>Und dafür hab ich bezahlt!< brüllte der fremde Junge.
Und dafür hab ich bezahlt…
Bernd hatte eine wache Intelligenz. Mit der linken Faust traf er die Nase seines Freundes. Die rechte gebrauchte er, um blitzschnell die Brille zurechtzurücken.
Und alle Schläge, die er austeilte, und alle Schläge, die er einsteckte, waren nur ein winziger Teil des großen Schmerzes, den er grad empfinden musste.
Vertrauen ist ein so empfindliches Instrument im Orchester des Miteinander.
*
Sandra weinte selten. Und wenn, dann nur im Verborgenen. Erneut presste sie ihr Taschentuch gegen die Augen. Wollten die Tränen denn schneller laufen als ihre Beine? Vorbei an dem Buchladen, der Drogerie, der Bäckerei und weiter die Straße lang. Dort hupte ein Auto, Bremsen quietschten, die Luft stank nach Benzin, aufgeweichtem Asphalt und schwitzenden Menschen. Eine Taube flatterte vor den kriechenden Autos hin und her. Die Hitze breitete sich über der Stadt aus. Sandra hatte eine feuchte Jeans und eine um die Taille und unter den Achselhöhlen nasse Bluse am Körper. In der Hand hielt sie das tränennasse Tuch.
Ach, könnte Bernd sie nur verstehen. War sie nicht immer schon vor ihren Tränen davongelaufen? Hätte er die Brille getragen, ihr den vertrauten Anblick geboten, wären sie, so wie besprochen, gemeinsam erst ins Cafe, dann ins Kino und dann vielleicht noch runter zum Fluss gebummelt. Und die Schwüle des Tages hätte der Frische der Nacht Platz gemacht. Und auf den Wellen hätten letzte ersterbende Lichtreflexe der Stadt getanzt. Und wenn sie ihre Körper aneinander gepresst hätten, dann würden sie nicht geschwitzt haben. Nur angenehm warm wär’s gewesen, angenehm und wunderschön.
Sandra spürte sich in das neue, fremde, zerstörte Männergesicht ein. Mit den Händen der Phantasie strich sie über das rechte, entstellte Auge. Hatte plötzlich das Bedürfnis, mit den Lippen zu tasten, zu streicheln, zu trösten.
>Warum versteckst du dich hinter dieser Brille<, hatte sie ihn so oft gefragt.
>Das ist mein Stil<, kam seine Antwort etwas barsch, etwas schnell.
>Setz sie ab<, bat sie, als er sie küsste. >Die Ränder bohren sich in mein Gesicht.<
Doch Bernd ging nun recht vorsichtig mit ihrem Gesicht um. Die Intensität der Begegnungen ließ nach.
Distanz und Nähe wollen nun mal nicht miteinander verschmelzen.
Während Sandra von einigen Passanten erstaunt gemustert wurde, dachte sie erneut an das Mitgefühl, als das höchste aller Gefühle.
>Nichts ist echt daran<, hatte er gesagt.
>Mitgefühl schließt Liebe ein.<, hatte sie behauptet.
Sie blieb plötzlich stehen, drehte eine Pirouette und rannte den Weg zurück. In der Drogerie fragte sie nach einer schwarzen Augenklappe. Noch im Hinausgehen verbarg sie dahinter ihr rechtes Auge.
Sie war jung. Sie setzte Signale.
Sie ging dann noch in die Bäckerei und kaufte das von ihm begehrte Hefegebäck. Berliner Ballen und Apfelkrapfen. Die Türe mit dem defekten Türschnäpper klackte hinter ihr zu. Jede zweite Stufe genommen, so raste sie nach oben. Ihre Fingerspitze wurde weiß, als sie die Schelle drückte.
*
Schrill bohrte sich der Ton in seinen Kopf. Wie spät mochte es sein? Das Gefühl für Zeit war ihm verloren gegangen. Es gibt Situationen, die ein ganzes Leben enthalten, als würde aus der Breite eines Prosawerkes das Konzentrat eines lyrischen Textes heraus destilliert.
Diese quälende, verflixt verdammte Schelle.
Sein Kopf schmerzte, um seine Brust legte sich ein Eisring, der nach innen zu wachsen schien. Schaute nicht manchmal ein Studienkollege vorbei, um sich ein Buch auszuleihen, Musik zu hören oder ein Schwätzchen zu halten? Vielleicht war’s Mark oder Peer?
Die Klingel schrillte unentwegt, die Frequenz des Tons schien das Trommelfell zum Platzen zu bringen.
>Ruhe da draußen!< brüllte Bernd.
Seit drei Jahren, seit er an der Uni Chemie studierte, besuchten sie ihn. Und dort hatte er auch sie getroffen. Sandra Melzer.
Was war ihm an ihr aufgefallen?
Wie sie sich bewegte, mühelos und rasch. Oder wie sie ihn ansah, intensiv und offen. Oder wie sie ihn ansprach und um die Adresse einer Buchhandlung bat. Dabei dehnte sie die Vokale, und ihre Sprechweise stand im Gegensatz zu ihren flinken Bewegungen.
Manchmal fließen Bilder, Stimmungen, Geräusche als Signale ins Unbewusste, treffen dort auf ihr Spiegelbild. Und es ist, als würde sich Materie mit Antimaterie verbinden unter Freiwerden einer unvorstellbaren Energie.
Feuer und Flamme sein, oder es hat gezündet, oder es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, so sagt der Volksmund.
So hatte Amors Pfeil getroffen.
Bernd lag ausgestreckt auf dem Boden, und die Decke über ihm schien mit jedem Atemzug zu schwanken und näher zu kommen. Er hatte sein Hemd auf den Schreibtisch geworfen, die Jeans während des Auskleidens auf links gezogen, dabei waren seine Socken in den Hosenbeinen stecken geblieben. Der Eisring, der seine Brust umzog, schloss sich mehr und mehr. Wann würde ihm die Puste wegbleiben?
Aufstehen. Er müsste aufstehen. Dann zur Türe. Müsste nachsehen.
Sein Bewusstsein kehrte erst wieder zurück, als Sandra seinen Kopf zu sich herunter zog und seine Brille sich in ihren Hals bohrte. Sein Körper hatte funktioniert. War aufgestanden, hatte zur Brille gegriffen, war zur Türe gelaufen, hatte die Klinke betätigt, und dann erst war er, Bernd Bernsen, in seinen Körper zurückgekehrt.
Er nahm ihren Kopf in beide Hände, schaute durch die Gläser seiner Brille auf eine schwarze Augenklappe, die ihr rechtes Auge bedeckte. Dann sah er das linke, rot und verquollen.
>Was ist passiert?< flüsterte er.
>Sag, findest du mich auch so noch schön?< seufzte sie und ihre Stimme war kaum zu vernehmen.
Bernd hatte eine wache Intelligenz.
Er fühlte ihren warmen Körper. Und der Eisring, der seine Brust zu zerquetschen drohte, war augenblicklich verschwunden. Und die schwüle Hitze des Sommertages verwandelte sich in eine wärmende Decke, die auf dem Boden ausgebreitet lag, um ihre Körper aufzunehmen.
Plötzlich war da eine Bewegung. Sie zog sich wie ein Tanz über zwei Körper, die sich zu einem einzigen großen formten. Und da war eine Stimme, die aus zwei Menschen drang.
Und dann war alles vorbei.
War es vorbei?
Sie lösten sich voneinander. Und sie waren besinnungslos. Und dann waren sie wieder hellwach. Ein Wachzustand, wie man ihn nur in Grenzsituationen erlebt. Klar und ohne Intellekt im Hier und Jetzt.
>Du bist schön<, sagte Bernd und warf ihre Augenklappe hinter sich. Dann legte er die Brille beiseite und die Sonne, die sich durch den dichten Gardinenstoff zwängte, ließ kleine Punkte über sein Gesicht springen.
Und er wusste, er würde Stärke und Sicherheit gewinnen, und ein inneres Bild der Vollkommenheit würde nach außen strahlen und das vorhandene sichtbare Bild überdecken.
Er wusste, die Korrektur lag in ihm selbst.

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