Sie hiess Anna und war die Tochter des Pfarrers. Nicht dass mir das etwas ausgemacht hätte, es war einfach mit ein paar Hürden verbunden. Anna war schön, und so nahm ich die Hürden gerne in Kauf. Jeden Samstagmittag war Anna bei ihren Eltern zu Besuch, und sie wollte, dass ich in Zukunft auch mitkommen würde. Es gab immer Fisch, und ich mochte keinen Fisch. Es wurde immer gebetet, und mir fehlten die richtigen Worte.
Anna hatte viel Humor, sie lachte ausgiebig und gerne, das war der Grund, warum ich sie liebte, auch wenn einiges wie ihre Prinzipientreue, die sie von ihrem Vater, dem Pfarrer, vererbt haben musste, gegen eine Beziehung zu ihr sprach. Es gab für sie entweder Schwarz oder Weiss, und ich war der Mann der Grautöne, ich wollte die Welten dazwischen erkunden, auch mit ihr.
Anna besass ein kleines Zimmer in der Stadt und ging oft früh zu Bett. Ich aber verlor mich gerne beim Lesen in der Nacht. In Annas Zimmer standen ein kleines Bett für 1 Person und ein Schreibtisch, den ich hin und wieder zum Schreiben benutzte, wenn Anna schon eingeschlafen war. Wenn ich bei ihr schlief, mussten wir uns fest umarmen, was im Winter sogar von Vorteil war, oder synchron liegen, um nicht aus dem Bett zu fallen. Ich legte jeweils ein grosses Kissen auf meiner Seite des Bettes auf den Boden, um bei einem allfälligen Sturz nicht unnötige Verletzungen davonzutragen.
Anna war schön, ihre Augen waren magisch, und es lag eine Sehnsucht in ihnen, die nichts mit mir zu tun hatte. Sie hatte auch nichts mit anderen Männern zu tun, sie war einfach da, und vermutlich wusste es Anna selbst nicht, dass sie diese Sehnsucht in sich trug. So war es irgendwann auch klar, dass ich nur eine weitere schöne Episode in ihrem Leben sein würde.
An einem Samstagmittag sagte sie beim Essen vor ihren Eltern, dass sie sich von mir trennen werde. Der Spass sei vorbei, sagte sie, für mich war das ziemlich unerwartet gekommen, hatten wir die Nacht zuvor doch noch über ihre Füsse gelacht. Vielleicht war es einmal zu viel gewesen.
In der Folge sah ich Anna nicht mehr, zog mich in meine Welt zurück und schrieb Liebesgeschichten über sie, die ich niemandem zeigte. Manchmal machte ich am Samstag einen Spaziergang in die Nähe des Pfarrhauses, blieb dort stehen und wartete. Einmal, es mussten bereits einige Wochen vergangen sein, erschien Anna, schön und elegant wie immer, Arm in Arm mit einem jüngeren Mann. Ich beobachtete die beiden aus der Ferne, wie sie sich küssten und an der Hand hielten, bevor sie hinter einer Hecke vor dem Pfarrhaus verschwanden.
Einige Monate später stand ich wieder einmal an einem Samstagmittag an gleicher Stelle und wartete. Dabei dachte ich an die Zeit mit Anna, an ihr Lachen, an ihre sinnliche Stimme, die immer auch einen Hauch von Erotik versprüht hatte, als mir plötzlich jemand von hinten die Hände auf meine Augen legte.
© René Oberholzer, 2020