Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem Land hoch oben im Norden ein Volk. Es nährte sich von Ackerbau und Viehzucht, ging fischen und jagen und war friedfertig zu jedermann.
Doch lange schon ist dieses Volk verschwunden, so lange schon, dass nicht einmal der Wind mehr weiß, wie es hieß und wo genau es lebte. Die Zeit hat alle seine Spuren verwischt ...
Nur diese Sage hat sich bis heute gehalten und man erzählt, in jeder Sage steckt ein Körnchen Wahrheit.
Zu jener Zeit arbeitete das Volk mit Werkzeugen aus Holz und war damit zufrieden bis, ja … bis …
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Der Älteste, der gleichzeitig auch Obermann und Häuptling seines Stammes war, ging eines Tages in seinen Garten, um etwas Gemüse für den Hammelbraten zu ernten. Sein Blick fiel auf ein kleines braunes Pflänzchen, das abseits der Beete stand und sich waghalsig zu Sonne reckte.
Er versuchte es aus dem Boden zu ziehen, es gelang ihm nicht, und er verletzte sich an den kleinen harten Blättern.
Es ließ sich nicht zusammendrücken, nicht roden und nicht zupfen. Es war anders als alle Pflanzen, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Schnell rief er die Ältesten zusammen, aber auch die wussten nicht, was dort in seinem Garten wuchs.
Das eigenartige Pflänzchen wuchs schnell in die Höhe, war härter als Stein und hatte einen seltsamen Klang, wenn man mit eben diesen dagegen schlug.
Nach einigen Monaten, als aus diesem Pflänzchen bereits ein ansehnlicher Baum geworden war fegte ein gewaltiger Sturm über das Land und am nächsten Morgen lag das Stück eines Blattes auf dem Boden.
Der Älteste nahm das Stück, welches so groß wie seine Hand war, und brachte es zum Thingplatz, wo es am Abend ein Fest zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin geben sollte.
Es wurde ein gewaltiges Feuer entzündet, denn die Fruchtbarkeitsgöttin war die wichtigste Göttin in ihrem Leben. Gedeih und Verderb hingen von ihr ab.
Nachdem das Fest zu Ende war, fand man in der Glut des Feuers, was von dem Blatt übriggeblieben war, eine verformte, zerflossene Masse. Es war noch heiß, und der Geschickteste der Stammesmitglieder hatte die Idee, es mit einem Stein zu bearbeiten. Es war bearbeitbar und konnte mit etwas Geschick in jede beliebige Form gebracht werden. Je kälter es wurde, desto schwieriger war es. Am Ende war es völlig unmöglich.
Der Älteste malte sich aus, was man alles damit machen konnte. Es würde eine Revolution in der Geräteherstellung geben und damit auch der Ackerbau und die Viehzucht vorangetrieben werden.
Ruhm, Ehre und Macht würden ihm und seinem Stamm zugute kommen.
In den nächsten Tagen verbrachten die Mitglieder des Dorfes ihre Zeit damit Äste, Blätter und Stängel von dem Baum abzuschlagen.
In der Mitte des Dorfes wurde eine Hütte errichtet, in die jemand gestellt wurde, den man "Schmied" nannte. Alles, was bisher aus Holz gefertigt worden war, wurde nun aus diesem neuartigen Material hergestellt.
Dieses war fast unbegrenzt belastbar und bearbeitete den Boden bedeutend effektiver.
Das Dorf und seine Bewohner wurden bald weit über seine Grenzen hinaus bekannt, und es begann ein florierender Handel in die Welt hinaus. Schnell wuchs das Dorf und alle Einwohner trugen ihren neu errungenen Reichtum zur Schau. Die Hütten aus Stroh wurden zu Häusern aus Holz oder Stein. Die ärmliche Kleidung wurde zu prächtigen Gewändern, wie man sie sonst nie zu sehen bekam.
Doch es gab auch Neider in der Welt, und andere Stämme versuchten in das Dorf einzudringen und den Baum oder Teile von ihm in ihren Besitz zu bringen.
Der Schmied begann Pfeil- und Speerspitzen herzustellen. Kriegs- und Verteidigungsgeräte wurden erfunden. Ein neuartiges Pulver mit großer Explosivkraft wurde eingeholt und eine riesige Mauer mit Wachtürmen wurde um das Dorf errichtet.
Was war mit den Menschen der damaligen Welt geschehen?
Nie gekannte Gefühle waren an die Oberfläche der menschlichen Seele getreten. Es waren Angst, Hass, Neid und Wut einerseits der Besitzlosen und andererseits der Besitzenden. Dieses gab es noch nie auf dem Erdenrund.
Heerscharen wurden entsandt um den Baum zu Fall zu bringen, doch das Dorf und seine Bewohner verteidigten ihn mit allem, was sie an Kriegstechnik aus ihm gefertigt hatten.
Ganze Hagelschauer aus Pfeilen und Speeren gingen auf die Neider nieder und neuartige Schussgeräte, die mit Pulver gefüllt wurden, schossen Eisenkugeln ab und lichteten die Reihen der Angreifer.
Der Baum aber, der bis dahin immer weiter gewachsen war, wurde mit jedem Schuss, mit jedem getöteten Angreifer dunkler und dunkler. Er ließ die Blätter hängen und wurde stumpf und spröde.
Mitten in dieses Treiben fiel ein gewaltiger Regen, der dreißig Tage und Nächte dauerte. Am Ende, als alles aufgeweicht und sumpfig war, viele Menschen ertrunken oder fortgespült waren, war auch vom Eisenbaum nichts mehr da.
Er und alles, was aus ihm gefertigt wurde, hatte sich während des Regens einfach in Rost verwandelt und war verschwunden.
Damit stand das Volk wieder am Anfang, als hätte es diesen Eisenbaum niemals gegeben.
Die Pflüge und Erntemaschinen aus Holz wurden erneut hervorgeholt. Der Handel ging zurück, aber die Friedfertig- und Freundlichkeit, durch die das Volk so bekannt geworden war, kamen wieder und alles war wie einst ...
Die Ära des Eisenbaumes ist schon lange vorbei, und wenn jemand gewisse Parallelen zieht, dann könnte er eventuell recht haben ...