Fortsetzung v. Donnerstag, 08. Dez. 2016; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Diesmal hockte ich mutterseelenallein im hinteren Fahrzeugteil des Rettungswagens und hielt Stefans Hand, der nach wie vor bewusstlos war und noch immer kein sichtbares Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Der Notarzt hatte eine Elektrokardiographie vorgenommen und ein akutes Koronarsyndrom (Herzinfarkt) festgestellt. Stefan erhielt eine Insulin-Glukose-Infusion, die nicht allein Diabetikern nach einem Herzanfall helfen solle, wie mir der junge Rettungsarzt erklärte, vielmehr würden alle Herzinfarkt-Patienten von einer solchen Behandlung profitieren. Eigentlich hatte ich in jener Stunde der alten Frau Falkner beistehen wollen, die mir unendlich leidtat – ich wusste nicht, ob sie Verwandte in Weidenbach hatte, hoffte auf Carmen, die junge Frau in der Wohnung gegenüber, die sich hin und wieder um die alten Leute gekümmert hat; aber dass ich Stefan aufgesucht hatte, war trotz Johann Falkners Tod, mit dem sich meine Fragen an 'Lassie' erübrigten, keinesfalls sinnlos gewesen. Wer weiß, wann man ihn gefunden hätte, wenn ich nicht im Präsidium aufgekreuzt wäre. Möglicherweise wäre er in seinem Dienstzimmer einen einsamen Herztod gestorben - mit dem letzten Zigarillostummel seines Lebens auf der Brust, der seine Haut verbrannt hätte – kein berauschendes Ende.
Obgleich ich Mitleid mit Marga Falkner empfand, weil sie den Rest ihres Lebens höchstwahrscheinlich allein durchs Leben würde gehen müssen und nicht mehr mit ihrem Mann nach Amerika fliegen konnte, war ich unglaublich froh, dass es nicht mehr möglich war, Johann Falkner wegen seiner Straftat zum Nachteil Brendas zu belangen; er würde sich nicht der Häme der Weidenbacher Gesellschaft aussetzen müssen, war gewissermaßen erlöst von seiner Schuld.
Ich wollte jedenfalls alles versuchen, damit Marga und die Öffentlichkeit nichts von seinem „Fehltritt“ erfuhren.
Ob Brenda Leander erzählt hatte, dass Falkner sie erpresst hat, um Sex mit ihr zu haben? - Hatte sie überhaupt Kontakt zu Leander außerhalb der Schulferien? - Ob Falkners Vergehen während des Mordprozesses zur Sprache käme, falls Leander „auspacken“ würde? -
Fragen über Fragen. - Ich wusste definitiv, dass der alte Mann als Täter ausschied. Falkner war krank und schwach gewesen und hätte derartige Schläge, wie sie an Brendas Hinterkopf ausgeführt worden waren, nicht 'erbringen' können. Trotzdem nahm ich mir vor, einen Abgleich der DNA zu veranlassen.

Ich hatte nach Stefans Zusammenbruch seine Ehefrau informiert, und als der Rettungswagen vorm Hellerburger Krankenhaus hielt und ich ausgestiegen war, erspähte ich Frau Lässahn vor dem Eingangsportal; sie lief auf und ab, blieb stehen und entdeckte schließlich mich und den Notarzt, der mit einem Sanitäter Stefan mitsamt der Trage aus dem Rettungswagen hievte.
„Was ist passiert, Frau Merane? Lebt Stefan noch?“
„Aber sicher, Frau Lässahn, regen Sie sich bitte nicht auf. Er wird den Herzinfarkt ganz gewiss überleben, ist gut versorgt worden. Allerdings wäre es wirklich besser, wenn er das Rauchen einstellen würde, nicht allein deshalb, weil er fast verbrannt wäre“, sagte ich.

Frau Lässahn war eine attraktive Frau um die fünfzig, sehr schlank, dunkelhaarig und modisch gekleidet. Sie war mir im Hellerburger Präsidium ein paar Mal über den Weg gelaufen und hatte stets ein freundliches Wort für mich übrig gehabt.

Stefan wurde nach einer gründlichen Untersuchung durch den diensthabenden Arzt in den OP geschoben. Der Zufall wollte es, dass im Hellerburger Krankenhaus ein Herzspezialist angestellt war, anderenfalls hätte er nach Hamburg verlegt werden müssen. Ein Assistenzarzt erklärte mir, dass bei 'Lassie' mehrere Herzkranzgefäße dermaßen verengt seien, dass kaum noch Blut durchfließe, eine Bypassoperation sei unumgänglich und solle unverzüglich durchgeführt werden.
Frau Lässahn unterhielt sich mit der OP-Schwester, als Marzok den Gang heraufstürmte. Mir fiel schon von weitem auf, dass er einen schuldbewussten Eindruck machte: Er hielt seinen Blick stur nach unten auf seine grauen Lacoste Sneakers geheftet.
Kai Marzok, Ende vierzig, einen Meter neunzig, kurzgeschnittenes, ergrautes Haar, dünn, asketische Gesichtszüge, kam auf mich zugeschossen. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Marzok reichte mir die Hand und bedankte sich dafür, dass ich Stefan das Leben gerettet hätte.
„Das war purer Zufall“, gab ich zur Anwort. „Ich wollte mir Rat bei ihm holen. Allein aus diesem Grund bin ich nach Hellerburg gefahren.“
„Wie geht es ihm?“, fragte Marzok.
„Er bekommt einen Bypass. - Seit wann verhört Stefan Handtaschendiebe?“, fragte ich.
„Äh, wir haben einen Engpass. Henning Habermann ist krankgeschrieben. Ich weiß nicht, wo ich die Leute hernehmen soll.“ Marzok blickte nervös um sich. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Das muss Stefan maßlos aufgeregt haben – ich meine, wie Sie mit ihm umgesprungen sind. Man erzählte mir, dass man Ihre Standpauke unten auf der Wache hören konnte; ein solches Verhalten untergräbt bei manchen Kollegen, die Stefan ohnehin nicht wohlgesonnen sind, die Autorität, das müssten Sie doch wissen“, sagte ich und sah Marzok wurfsvoll an.
Marzoks Blick schweifte über mich hinweg und glitt über die farbenfrohen Bilder, die rechts und links die weißen Krankenhauswände schmückten. Er räusperte sich und sagte: „Viel wichtiger erscheint mir, Herr Lässahn würde endlich seine Qualmerei aufgeben. Damit hätten wir schon viel erreicht.“

„Wissen Sie überhaupt, unter welchem Stress mein Mann jeden Tag steht, Herr Marzok? Müssen Sie ihn dann auch noch wegen eines popeligen Taschendiebs derart in die Mangel nehmen, dass er am nächsten Tag einen Herzanfall erleidet?“
Frau Lässahn war zu uns getreten. Ihre Augen blitzten Marzok an, als wolle Sie ihn versengen.
„Guten Tag, Frau Lässahn“, sagte Marzok förmlich und gab ihr die Hand. „Ich hatte allen Grund, ihren Mann zu tadeln. Werfen Sie m i r bitte nicht vor, was die ungesunde Lebensweise Ihres Mannes seiner Gesundheit zufügt und wer weiß was sonst noch alles nach sich zieht. - Und grüßen Sie Ihren Mann bitte von mir, sobald er aus der Narkose erwacht. Ich wünsche ihm gute Genesung. Möglicherweise gibt er jetzt endlich sein Laster auf, damit wir ihn weiterhin in unserer Mitte behalten. Guten Tag, die Damen.“
Morzek machte auf dem Absatz kehrt und strebte dem Ausgang zu.
„Arroganter Schnösel, unmenschlicher“, sagte Frau Lässahn
„Mein Mann reißt sich jeden Tag ein Bein für die Dienststelle aus, macht Überstunden noch und nöcher. Die wird er niemals mehr abbummeln können. Das können Sie doch bestätigen, Frau Merane, nicht wahr?“ Auf ihrem Gesicht hatten sich hektische rote Flecken gebildet, ihre Augen blickten trüb und unstet, nervös war gar kein Ausdruck. Sie war mit den Nerven am Ende.
„Jederzeit, Frau Lässahn“, beruhigte ich sie. „Im Präsidium ist jetzt „die Kacke am Dampfen“ ohne Ihren Mann. Morzeck muss nun wohl selber mal ein paar Überstunden schieben.“

Ich setzte mich mit mit Stefans Frau in die Caféteria. Der Eingriff sollte an die fünf Stunden dauern; achtzig Minuten waren erst verstrichen. Die Minuten schlichen dahin wie behäbige Bummelzüge aus längst vergangener Zeit.
„Du brauchst nicht länger mit mir zu warten, Nora“, sagte Frau Lässahn, die mir nach drei Stunden und sechs Tassen grünen Tee, der mein Herz beträchtlich höher schlagen ließ, das „Du“ angeboten hatte.
„Stefan hat mir erzählt, dass ihr in Weidenbach einen Mordfall bearbeitet. Dort wirst du dringender gebraucht als hier. Wir sehen uns gewiss bald wieder. Nach allem,was Stefan mir von dir erzählt hat, kommst du ihn bald wieder besuchen.“
„Darauf kannst du dich verlassen, Stefanie“, sagte ich. „Ich halte euch die Daumen, dass die Operation gut verläuft. Bis dann.“

Ich ging zu Fuß zurück zur Wache, stieg dort in meinen Wagen und fuhr direkt zum Weidenbacher Revier. Als ich den Flur betrat, vernahm ich Marcs Stimme. Es hörte sich an, als hielte er einen Vortrag. Ich öffnete leise die Tür.
„Haare können unheimlich intensiv haften“, sagte Marc, der mit dem Rücken am Tresen lehnte. "Es gibt da eine Frau beim australischen Bundeskriminalamt, die das akribisch untersucht hat. Sie hat herausgefunden, dass Haare ganz leicht übertragen werden, z.B. im Auto, bei Berühungen mit einer anderen Person und so weiter. Einige gingen sehr schnell verloren, andere wiederum hafteten unendlich lange, bevor sie abfielen, an Kleidung zum Beispiel. Aus diesem Grund sind Haare, die man am Tatort findet, nicht unbedingt ein Indiz, Jensen.“
„Ich meinte ja auch nur“, sagte Jensen.
Marc drehte sich zu mir um.
„Na, Nora, hast du auch noch Haare von Santo an deiner schicken Lederjacke? Und wie geht es Stefan?“
„Nur“, sagte ich. „Ich habe nur Haare von Santo an meiner schicken Lederjacke. Und Stefan wird operiert. Bypass. Möglicherweise hat er die Operation bereits hinter sich. Ich muss Stefanie anrufen.“
„Hat „Lassie“ etwa eine Geliebte?“, fragte Hansen.
„Nö“, sagte ich, „aber eine Frau, die Stefanie heißt.“
"Stefan und Stefanie, interessant", sagte Hansen.
„Und was fällt dir zu Falkners plötzlichem Tod ein? Hoffentlich hatte er nichts mit dem Mord an Brenda zu tun. Dann sind wir aufgeschmissen.“ Marc rieb sich die Augen.
„Falkner hatte nichts mit dem Mord an Brenda zu tun“, sagte ich. „Er war ein kranker alter Mann, litt schon seit Jahren an Krebs im fortgeschrittenen Stadium; er wäre gar nicht in der Lage gewesen, die tödlichen Schläge auf Brendas Hinterkopf auszuführen.“

Ich hatte mir vorgenommen, Herrn Falkners Beichte für mich zu behalten, allenfalls gedachte ich Marc davon zu erzählen – sobald der Mordfall aufgeklärt und ad acta gelegt worden war.
„Und beide, er u n d sie?“, bohrte Marc weiter. „Falls es da irgendetwas gab, das niemand wissen sollte, weil möglicherweise der sogenannte gute Ruf 'im Eimer gewesen' wäre?“
Ich fragte mich, wie Marc darauf kann. Möglicherweise besaß er eine Intuition für die Schwächen der 'guten Volksseele', den siebten Sinn, oder so etwas wie ein Gespür für Situationen, aus denen sich kriminelle Handlungen herleiten ließen.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte ich.
„Ich habe mich schlau gemacht, Nora“, sagte Marc. Frau Falkner war oft krank, oft abwesend, weil häufig zur Kur; ihr Mann, Johann Falkner, war unverhältnismäßig oft Strohwitwer. Wer weiß, auf welche Gedanken jemand kommt, der sich in solch einer Situation befindet. Und Brenda war als Teenager zumindest nicht hässlich und recht gut entwickelt.“
„Johann Falkner ist kein Mörder – ebenso wenig wie seine Frau eine Mörderin ist“, sagte ich.
„Wie hat Marga Falkner den Tod ihres Mannes aufgenommen? Ist sie zu Hause. Kümmert sich jemand um die alte Dame?“
„Ja“, sagte Marc. „Ihre Nachbarin, diese Carmen, schaut stündlich nach ihr. Es besteht Suizidgefahr. Carmen hat vier Kinder zu versorgen und kann nicht die ganze Zeit bei ihr sein.“
„Gibt es Neuigkeiten, die Leander betreffen?“, fragte ich. Mein Blick fiel auf Adam Jensen, der die Ohren spitzte und Marc unverwandt ansah.
„Das erzähle ich dir unterwegs“, sagte Marc und drängte mich zur Tür.

„Und?“, fragte ich, als wir im Auto saßen.
„Wir müssen nach Hamburg“, sagte Marc. „Ich habe einen Onkel aufgestöbert, bei dem Leander Koska noch bis vor einem Monat gewohnt haben soll.“
„Wie hast du seinen Nachnamen herausgefunden?“
„Jensen hat ihn herausgefunden. Ein blindes Huhn ...“, griente Marc. „Ich habe ihn damit beauftragt, alle Emmerichs in Hamburg anzurufen und sich nach einem „Leander“ zu erkundigen. Beim dreizehnten Anruf hatte er Glück: Es meldete sich eine Frau mit dem wohlklingenden Namen 'Lucia Emmerich', Leanders Tante mütterlicherseits, die Jensen Leanders vollen Namen verraten hat: Koska; Leander Koska heißt der Bursche, der mir angeblich so ähnlich sehen soll. Jensen hat daraufhin sämtliche Koskas in Hamburg angewählt und ist auf diesen Onkel gestoßen, Arnulf Koska.“
„Weiß dieser Onkel, ob und wo Leander zuletzt gearbeitet hat?“, fragte ich.
„Auf irgendeiner Werft“, sagte Marc. „Den Namen hat er Jensen nicht verraten.“
„Wann fahren wir?“, fragte ich.
„Gleich. Ich habe n o c h etwas herausgefunden, etwas Sensationelles. Da legst du dich lang hin, Nora – und ich kann dich endlich küssen.“
„Sag schon, was hast du herausgefunden? Küssen kannst du mich später.“
„Also, liebe Nora, ich habe einen DNS-Geschwisterschaftstest machen lassen, Brenda und Adam Jensen betreffend; beide haben definiv ein gemeinsames Elternteil, teilen sich 53 Prozent ihrer DNS, sind demzufolge Halbgeschwister. Was sagst du nun?“
„Brenda Bohlau und Adam Jensen sind Halbgeschwister? Kaum zu glauben. Wie bist du drauf gekommen?“
„Jensen“, sagte Marc. „Er benimmt sich verdächtig.“
„Ob Jensen weiß, dass Brenda seine Halbschwester war?“
„Hundertpro“, sagte Marc. „Hab' ich mir jetzt einen Kuss verdient?“
„Unbedingt“, sagte ich.

Fortsetzung am kommenden Mittwoch, den 14. Dezember 2016

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