12 – Lebenssplitter "Weglaufen"

Bild von noé
Bibliothek

12 Lebenssplitter

Weglaufen

In der Zeit, in der Oma Hedwig bei uns wohnte, dröselte sich bei mir langsam die Hutschnur auf, die bei anderen eher schon mal platzt.

Irgendwie war mir das ganze Getrieztwerden unerträglich geworden, obwohl ich ja – ohne Gegenbeweis - davon ausging, dass es in allen Familien so zugehe.

Die Traurigkeit über mein Erleben wurde so groß, die Melancholie so raumgreifend, dass ich weg wollte, nur weg von dort, wo man mich nicht liebte, wo ich nur geduldet war und auch das nur, weil man ja mit mir nirgendwo anders hin konnte. Das „Heim“, das als ständige Bedrohung und Damoklesschwert über mir schwebte, wäre vielleicht – aus heutiger Sicht – noch nicht einmal das Schlechteste gewesen. Damals erschien es mir als der Supergau, auch wenn dieses Wort erst noch erfunden werden sollte.

Ich machte mir auch nicht bewusst, dass meine Mutter mich wohl niemals tatsächlich „ins Heim“ abgeschoben hätte, hätte das doch bedeutet einzugestehen, eine Situation nicht im Griff zu haben (das Eingetändnis dieses Unvermögens wäre wohl die größte Tragik für sie gewesen).

So glaubte ich den Versicherungen, ich selber sei an allem schuld, was negativ lief, ich sei diejenige, die alles heraufbeschwor, allen Ärger, alle Unzufriedenheiten, alles in meinem limitierten Geist begründet.

Ich dachte, es sei besser, so unsichtbar wie möglich zu sein, damit um Himmelswillen anderen bloß nicht auffiel, wie blöd ich doch wirklich sei und was für ein Klotz am Bein dieser Familie, die ohne mich so viel sorgenfreier leben könnte (Sonnenuntergang, Abspann, Ausblende unter Geigenbegleitung ...).

Bei meinen sich häufenden Besuchen am Familiengrab, dem Geviert mit der schwarzen Stele in der Mitte, umgrenzt von einem kniehohen, schmiedeeisernen Zaun, vorne rechts das Grab meines Vaters, überkam mich eine Sehnsucht nach Freiheit, die so sehr schmerzte und im Herzen zog.

Ich fasste den spontanen Entschluss, von Zuhause fortzulaufen. Wie das bei Spontanentschlüssen so ist: ohne Vorbereitung. Ich stand gerade wieder am Grab meines Vaters, erbat mir seinen Segen und seinen Schutz, nahm das silberne Kettchen ab, das ich um den Hals trug und vertraute es meinem Vater an. Man sah es kaum in der Friedhofserde. Dann machte ich mich auf zum Speckenbütteler Park.

Der Speckenbütteler Park war mit meinem sog. „Indianerschritt“ gute 45 Fuß-Minuten von Zuhause entfernt. Meinen „Indianerschritt“ hatte ich mir angewöhnt, weil ich in dieser Zeit viel unterwegs war, überall, bloß nicht Zuhause sein. Mit diesem Schritt konnte ich gehen und gehen und gehen und bekam davon gar nichts mit. Meine Füße liefen und mein Kopf dachte und plötzlich war ich dann da, wohin ich wollte.

Im Speckenbütteler Park war ich häufig. Es war da so idyllisch. Er war um einen See herum angelegt, auf dem es Schwäne mit Größenwahn gab. Ich hatte schon erfahren, wie sehr so ein Schwanenbiss schmerzen konnte, denn als ich mit Klapperlatschen zehenfrei am Ufer stand, die dortige Gastronomie hatte einen kleinen hölzernen Anleger, fand der Schwanenvater meinen linken großen Zeh wohl sehr attraktiv. Zu den Schwänen hielt ich seitdem respektvolle Distanz.

Die Verträumtheit der Bilder von Monet fand sich wieder rings um den See, ließ mich manches Mal fast körperlich in andere Wirklichkeiten eintauchen. Das zog mich an und so begab ich mich in diese Landschaften. Es war auch einfach an diesem sonnigen Sommertag.

Auf den Wiesen, Teil dieser Landschaften, war Gras gemäht worden und lag zu riesigen Haufen aufgetürmt auf den Flächen. Es duftete so gut, dass ich wusste, wo ich diese Nacht verbringen würde, weiter hatte ich noch nicht gedacht.

Als die Dämmerung die Konturen verwischen ließ, wagte ich mich in einen dieser duftenden Heuhaufen hinein, aber ich wurde rasch desillusioniert durch die Tatsache, dass diese Heuhaufen nur von außen sonnengetrocknet waren, innen waren sie richtiggehend feucht.

DARIN schlafen? Wie sollte das gehen? Ich überlegte eine Weile. Nein, es half nichts, ich musste wohl doch wieder nach Hause ... Aber ich hatte mich zur körperlichen Erschöpfung gelaufen – was tun?

Die Gastronomie schien mir plötzlich ein heller Stern in der dunklen Nacht. Auf der anderen Seite des Sees leuchtete mir ihr Licht so verlockend Hoffnung ...

Ich machte mich auf den langen Weg um den See, immer dieses Licht vor Augen und langte auch total erledigt dort an, als der erschrockene Wirt gerade dabei war, bei offener Tür einsam die Kasse zu machen.

Wo ich denn herkäme – um DIE Zeit, es war wohl so um zehn Uhr abends herum. Ich sei weggelaufen. Die Absurdität seiner nächsten Frage wurde mir erst viel später klar: „Wissen deine Eltern davon?“ Naja, ich nehme mal an, er hatte nicht täglich mit Ausreißern zu tun.

Der Wirt war sehr freundlich, verfrachtete mich in seinen VW-Käfer und setzte mich vor der elterlichen Haustür ab – exakt in DEM Moment, als diese sich öffnete und meine Mutter auf die Straße entließ. Mit offenem Mund sah sie, wie ich dem fremden Wagen entstieg und hörte sich die Erklärung des ebenso verstörten Wirtes an.

Meine Mutter war just in diesem Moment mit Photos von mir auf dem Weg zur Polizei gewesen, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Sie war ungeheuer erleichtert, aber wohl weniger, mich wiederzuhaben, als mehr, sich vor der Polizei keine Blöße geben zu müssen.

Ob es jetzt das war, oder Oma Hedwigs Anwesenheit, der das wohl alles sehr seltsam vorgekommen sein muss: Wenn ich auch nicht vor Erleichterung in den Arm genommen wurde – was mir sowieso äußerst befremdlich vorgekommen wäre -, so habe ich doch immerhin eine ganze Woche lang keine Schläge bekommen, auch keine abgezählten für jede fünf Minuten Verspätung an jenem Abend. Ausnahmsweise einmal...

Später erzählten sie mir, dass genau zu dem Zeitpunkt meines Weglaufens sich im Speckenbütteler Park ein „Sittenstrolch“ herumgetrieben haben soll und dass ich Glück gehabt habe, ihm nicht in die Arme gelaufen zu sein. Aber vielleicht war auch das wieder ein abgefeimter Trick, mich von eventuellen weiteren Versuchen dieser Art abzuhalten (als wenn ich das Ganze ein zweites Mal in so unbedarfter Weise angegangen wäre...)

In der Folge jedenfalls gingen alle weiteren Fluchten meinerseits nach innen.
Das silberne Kettchen, das ich meinem Vater auf sein Grab gelegt hatte, habe ich nicht mehr wiederfinden können.

© noé/2014 Alle Rechte bei der Autorin.

Interne Verweise

Kommentare

15. Dez 2014

Die "Lebenssplitter": lesenswert -
Haben stets sich schön bewährt!
LG Axel

15. Dez 2014

"Musst" Du sie jetzt auch doppelt lesen - / das Wesen kann daran genesen ...

17. Dez 2014

Immer wieder gerne in deinen Zeilen liebe Noe! LG!

29. Jan 2016

Ja, so war das damals. Deine Geschichte hat mich sehr angesprochen.
LG, Susanna