Die Entdeckung des Psah-Schnatz-Effektes

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von Monika Laakes

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»Unglaublich«, flüsterte Prof. Alfred Schnatz. »Es ist einfach unglaublich.«
Der zierliche Mann rieb seine knochigen, ausgemergelten Hände aneinander.
»Ich muss genau neunundfünzig Mal reiben, dann habe ich den bahnbrechenden Effekt«, murmelte er und rieb und zählte voller Angst, die Konzentration auf das Zählen könne ihn von der so wichtigen mechanischen Verrichtung ablenken. Oder wiederum das Lenken der Aufmerksamkeit auf den Reibeeffekt könne ihn von der richtigen Reihenfolge der Zahlen abbringen. Es war ein schwieriges Unterfangen, diese beiden Energieleistungen zu koordinieren. Beides musste mit äußerster Achtsamkeit ausgeführt werden. Davon hing das exakte Forschungsergebnis ab. Prof. Schnatz war Physiker und hatte die Leitung eines kleinen und durch den verstorbenen Vorgänger weltbekannt gewordenen Forschungsinstituts übernommen. Mit seinen neunundfünfzig Jahren hatte er für bahnbrechende Entdeckungen kaum mehr Zeit. Er liebte und verehrte Einstein als geistigen Vater, Übervater und bisweilen heilige Leitfigur.
Schnatz hatte den Zählvorgang beendet und hielt mit dem Reiben inne. Er zog die Hände in Brusthöhe in einem Abstand von ungefähr dreißig Zentimetern voneinander weg und hielt die Finger leicht gekrümmt, die Handflächen zueinander, als würde er einen mittelgroßen Ball umfassen. Er spürte ganz deutlich einen Energiefluss zwischen seinen Greiforganen.
»Psah!« rief er. »Das ist der Psah-Schnatz-Effekt!«
Er stand noch eine Weile still und betrachtete seine Wunderwerke, seine kleine, arteigene Energiefabrik in Form seiner Hände.
Eine lange Haarsträhne des rechtsgescheitelten, ohrlangen, glatten, mausgrauen Haares hing über seinem linken Auge. Der bürstenförmige Schnäuzer zitterte leicht. Alles an Prof. Schnatz befand sich in freudiger Erregung. Er nahm nun seine Hände nach unten und schüttelte sie aus. Dann schrieb er die Daten des Psah-Schnatz-Effektes in ein Journal: Mittel zur Durchführung, Art der Ausführung, Dauer des Vorganges, Beobachten des Effektes und Spekulationen über die Anwendung als Ausblick und Quintessenz.
Prof. Schnatz dachte voll Leidenschaft an seine erste Begegnung mit Psah. An jenem Abend des 23. Okt. 99 war er noch einmal kurz ins Institut gefahren. Er arbeitete ohne Rücksicht auf Familie oder Freunde rund um die Uhr. Er arbeitete mit der Verzweiflung eines von Panik getriebenen Forschers, dem die Lebenszeit davonzujagen drohte. An besagtem Abend fand er in der Mail-Box seines Computers eine Nachricht. Sein ärgster Konkurrent, Prof. H.C. King, war einem Herzschlag erlegen. Schnatz rieb die Hände mit einer nie gekannten Intensität und Ausdauer. Er rieb sie voll Überlebensfreude. Und während er sie aneinander rubbelte, zählte er die Jahre seiner Lebensspanne. Bei Neunundfünfzig hörte er spontan auf. Wie ein Blitz fuhr die Erkenntnis in seinen Kopf, dass er noch am Leben sei und dass ihn irgendeine mysteriöse Kraft am Leben hielt. Wie in Trance zog er langsam in Brusthöhe die Hände voneinander fort. Er formte mit ihnen einen imaginären Ball. Und er spürte ein Kribbeln, einen Fluss von Hand zu Hand, eine Wärme und eine geheimnisvolle Kraft. Er dachte an seinen großen väterlichen Freund Albert E. Auch für Albert war die Welt das Werk eines schöpferischen Geistes, welcher sie als einheitliches Ganzes nach Gesetzen geformt hat. Diese Gesetze zu finden, das System, nach dem die Welt beschaffen war, aufzuschlüsseln, ohne dabei das einheitliche Ganze zu zerstören, so beschrieb Einstein seine Arbeit.
Prof. Alfred Schnatz hatte sich in seinem ganzen Leben noch nicht so euphorisch beschwingt gefühlt, wie am Abend des 23.10.99. Nie war er seinem geistigen Vater so nahe.
Seitdem verging kein Tag, an dem er nicht seine exakte Forschung betrieb. Er hatte das entdeckt, was allem Lebendigen immanent ist. Was eben diesem Leben innewohnt. Er nannte diese Kraft Psah. Er hatte sich einige Wochen davon überzeugen können, dass Psah immer auf die gleiche Weise in Erscheinung tritt. Er hatte gelernt, den Fluss im Bereich der Hände wahrzunehmen. Mitunter geschah es, dass er ganz deutlich einen Energieball zwischen seinen Händen leuchten sah. Dieses faszinierende Spiel mit eigenen geheimnisvollen Kräften ließ ihn aufblühen wie ein glückliches Kind. Die Kraft Psah scheint dem Elektromagnetismus verwandt. Doch das Eigentliche, das dieses Psah auszeichnet, ist zu vergleichen mit dem schöpferischen Geist des Universums.
Prof. Schnatz durfte und wollte diese Offenbarung, die einer Erleuchtung gleichkam, der Fachwelt nicht vorenthalten. Zuerst würde er den internen Kreis davon in Kenntnis setzen. Schon in drei Tagen auf der Weihnachtsfeier würde er seinen Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern eine Kostprobe seines Wissens präsentieren.
Und es war eine würdige Feier. Durch die besondere Atmosphäre in der altehrwürdigen Villa mit den weitläufigen Räumen, den hohen Decken und den kleinen Podesten in jedem der Räume, konnte Prof. Schnatz die Ausführung seiner Forschung ungeniert darbieten.
»Bitte, meine Herren«, leitete er die Feier ein. »Ich begrüße Sie herzlich zu unserer Weihnachtsfeier und bitte um Gehör.«
Prof. Schnatz stand auf seinem Podest und überragte die Längsten der Anwesenden um eine Handbreit. Hier war für ihn die Chance gegeben, mit seinen zierlichen Maßen von 1.68 m Länge nicht von der Gruppe geschluckt zu werden.
»Bitte, meine Herren«, wiederholte er und stützte sich auf ein kleines Stehpult. »Ich möchte Ihnen heute eine segensreiche Mitteilung machen. Ihre und meine Zukunft ist gesichert. Sie werden staunen, was ich für Sie im Köcher habe. Glauben Sie mir, der Inhalt meiner geistigen Pipeline wird niemals versiegen. Niemals.«
Er lächelte vieldeutig und klopfte mit seinem rechten gekrümmten Mittelfinger an seinen Kopf. Dann rieb er neunundfünzig Mal die Hände und blickte dabei streng in die Augen einiger plaudernder Mitarbeiter. Dann formte er mit seinen Händen den Energieball und blieb eine Weile reglos stehen. Es war still. Achtundsechzig atemlose Gäste. Es war absolut still. Einhundertsechsunddreißig Augen blickten zu ihrem Direktor auf. In den hintersten Reihen stellten sich einige junge Männer auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Dann löste sich Prof. Schnatz aus seiner Starre und stützte sich wieder auf das Podest.
»Nun?« fragte er.
Jemand in den hinteren Reihen applaudierte zaghaft. Dann klatschten alle Gäste ausgiebig. Einige Studenten stampften mit den Füßen. Der Boden vibrierte. Der Mitarbeiterstab bestand ausschließlich aus männlichen Kollegen. Die weiblichen Arbeitskräfte waren nicht geladen, da sie den dazu notwendigen akademischen Grad nicht aufweisen konnten. Sie hätten ohnehin den wissenschaftlichen Ausführungen des Direktors nicht folgen können.
»Nun?« wiederholte Prof. Schnatz mit Nachdruck. Der Applaus verebbte.
Dann blätterte er in seinem vor ihm auf dem Pult abgelegten Journal.
»Sie alle wissen, dass meine besondere Verehrung unserem geistigen Vater

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