Bahnschranke

Bild zeigt Torsten Schönfelder
von Torsten Schönfelder

In meiner Erinnerung stehe ich mit meinen Eltern an einer Bahnschranke im glutheißen brandenburgischen Sommer, und wir warten auf den Zug.

Und weil das sehr, sehr lange dauern kann, hat mein Vater den Motor abgestellt, und wir sind ausgestiegen.

Unter uns bunte, unebene Pflastersteine, offenbar eine Art Feuerstein, mein Vater nennt sie „Katzenköpfe“.

Der Schrankenwärter ist in grau-blaues Tuch gehüllt, trägt eine Schiebermütze und raucht Zigarre. Mein Vater wechselt ein paar freundliche Worte mit ihm, lehnt dabei entspannt über der Schranke und ist ruhig und gut gelaunt – wir haben ja Urlaub, und alle Zeit der Welt.

Neugierig strecke ich meine Ohren in die Luft: Nähert sich schon der Zug? Wird es eine Dampflok sein, mit lautem Fauchen und in weißen, kalt und stumpf riechenden Dampf gehüllt? Oder vielleicht ein Güterzug?

Später wird der Schrankenwärter eine lange Kurbel an die Mechanik stecken, die Mütze ins Genick schieben und bedächtig die Schranke hochkurbeln. Er wird - die Mütze mit einer Hand nach oben gereckt – seinen Gruß entbieten und uns Gute Fahrt wünschen.

Meine Mutter wird mir zeigen, wie über dem Asphalt die Luft vor Hitze flimmert.

Das Licht wird langsam abendlich pastellfarben werden, und wir werden auf den alten Bauernhof zurollen, in dem wir wieder Quartier bezogen haben.

In meiner Erinnerung bin ich der glücklichste kleine Junge der Welt.

Ich weiß natürlich, dass sie, die Erinnerung, eine Zauberin ist, die alles böse hinweg nimmt und einen reinen, verklärten Blick übrig lässt. Etwas zum dran festhalten. Etwas wie eine Wurzel. Oder ein Geländer.

Aber lasst mir, bitte, diese Illusion.

Lasst mir bitte diese Bahnschranke.

21. Juni 2019

Prosa in Kategorie: 
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