21 – Lebenssplitter "Ami-Eis"

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von Heide Nöchel (noé)

Die Rickmersstraße als Rotlichtviertel war schon damals heruntergekommen, aber wohl sehr attraktiv. In erster Linie – so schien es – für die amerikanischen Soldaten. Die „gingen spazieren“, immer mindestens zu zweit. Und sie hatten immer Kaugummi dabei. So wusste ich es von den anderen Kindern. Das war, als ich schon zur Schule ging und von daher ein paar der Kinder kannte, die in der Rickmersstraße wohnten. Manche hatten sogar Schokolade erbetteln können! Schokolade!

Natürlich aßen diese Glückspilze sowas sofort selber auf. Aber davon schwärmen konnten sie noch tagelang. Und furchtbar angeben, wie leicht diese gutmütigen Bären doch ausgenommen werden konnten! Um sie herumtanzen und immer hungrig ausschauen und ihnen keine Ruhe lassen, immer am Uniformrock ziehen, dann flossen die Gaben reichlich und dabei lachten die Amis auch noch freundlich.

Oh, was wurden mir diese fremden Wesen begehrenswert! Noch nie hatte ich solch ein Riesenglück gehabt, einem von ihnen zu begegnen! Ja, ich durfte ja auch nicht auf die Rickmersstraße.

Oh, was hatte ich für Ärger bekommen, als ich Gerhard einmal besuchte. Gerhard war ein Junge aus meiner Klasse und war irgendwie „älter“, so gar nicht verspielt wie die anderen Kinder. Ich fand ihn sehr sympathisch, weil er nicht so rumalberte und immer etwas ernster war. Und sein Vater hatte ein Paradies unter sich: Er führte eine Eckkneipe auf der Rickmersstraße, die sein Sohn einmal erben sollte! Das war ja ganz was Besonderes.

Ja, und einmal habe ich ihn dort besucht, als er seinem Vater im Ausschank helfen musste. Eine ganz andere Welt! Meine Mutter erfuhr davon (wie?) und ich bekam eine Abreibung. „Was hast du dort zu suchen!“ Aber das war eine rein rhetorische Frage, denn zu einer Antwort ließ sie es nicht kommen.

Im selben Haus, aber unter dem Dach, wohnte Carola. Die hatte unglaublich viele Geschwister. Auch die besuchte ich klammheimlich, denn zu mir durfte ja nie jemand kommen. Carolas Mutter rauchte den ganzen Tag und die Wohnung sah sehr unordentlich aus, überall lagen gebrauchte Kleidungsstücke, Schlüpfer und Windeln herum.

Beim zweiten (und letzten) meiner Besuche waren wir in der Küche allein. Carola legte sich flach auf den Boden und angelte mit dem ausgestreckten Arm unter dem Küchenschrank herum. „Komm!“, lud sie mich ein, „Was man findet, darf man behalten.“

Also legte auch ich mich auf den Linoleumboden und angelte. Und ich erangelte mir tatsächlich ein Zehnpfennigstück! Oh, da hatte ich aber Glück gehabt! Stolz zog ich von dannen. Nicht lange stolz. Denn abends bekam ich wieder Dresche. Und zwar doppelte. Einmal, weil ich schon wieder in der Rickmersstraße gewesen war (dabei war das doch das obere Stück, die Bardamen waren doch viel weiter unten zu finden!), aber zum anderen, weil Carolas Mutter bei Oma Anni gewesen war und sich beschwert hatte. Ich hätte Geld geklaut. Aus ihrer Geldbörse aus dem Küchenschrank! Ganze fünf Mark!

Alles Beteuern und Erklären half nichts. Meine geangelten zehn Pfennige hatte ich schon vernascht, ich hatte mir meine Lieblingsbonbons gekauft, fünf dicke rote Lutschhimbeeren, und ich hatte es geschafft, sie ganz alleine aufzulutschen, ohne dass ich jemandem was abgeben musste wie sonst so immer. Auch meine Zunge hatte schon wieder diesen vollroten Farbton verloren, aber als Beweis dafür, dass ich nur zehn Pfennig GEFUNDEN hatte, und nicht ganze fünf Mark GEKLAUT hätte sie auch nicht gegolten.

Dass ich Gerhard nicht mehr besuchen durfte, das tat mir weh, aber für Carola hatte ich nur noch Verachtung übrig.

Und was war jetzt mit den Amerikanern? EINmal hatte ich wirklich Glück! Ich hatte mich erneut über die Straße getraut, als ich von dem Bau(schutt)grundstück aus gegenüber auf der Rickmersstraße zwei amerikanische Soldaten sah, die noch von keinen Kindern umlagert waren. Das war meine Chance! Schnell die Böschung hoch, am Straßenrand links und rechts geguckt und – zack! – schon war ich drüben.

Wie das jetzt im Einzelnen abgelaufen war, kann ich nicht mehr genau nachvollziehen. Jedenfalls war einer der beiden breit lächelnden uniformierten schwarzen Männer mit mir gekommen, über die Straße weg zu unserem Häuserblock. Dort hatte ich bei uns geklingelt und meine Mutter hatte aufgedrückt. Von unten im Treppenhaus rief ich in den dritten Stock, dass ein „Ami“ uns besuchen wolle. Was meine Mutter von oben runterrief, habe ich nicht verstanden.

Der Ami bekam traurige Augen, schaute mich aber weiter mit einem breiten Lächeln an. Dann strich er mir über meine blonden Haare und gab mir eine braune Tüte. Dazu sagte er „Eis“. Wahrscheinlich war es eher „Ice“, aber das klingt ja beides gleich. Dann machte er eine löffelnde Bewegung und zeigte die Treppe nach oben. Danach drehte er sich um und ging weg.

Es war Erdbeereis. Von so cremiger Konsistenz und so fruchtig, dass es mir als Geschmackstraumbild ins Gedächtnis eingebrannt blieb. Gegessen haben es alle. Die Dresche dafür habe ich alleine gekriegt. Und wieder mal die strikte Anweisung, die Rickmersstraße nie mehr auch nur zu betreten und nie, nie wieder jemals einen amerikanischen Soldaten anzusprechen.

noé/2014

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