Schwarz.
Ein flatternder Schatten im Augenwinkel,
an meiner Seite, so lange ich denken kann.
Die Schamanin hebt die Arme
und lässt ein Bild in meinem Geist entstehen.
Wintersonnenwende.
Das Kind in der Wiege,
die Decke an allen Seiten festgesteckt,
denn es ist kalt.
Am Kopfende ein Schatten,
hält Wache.
Kluge Augen, blitzender Schnabel,
breitet die Flügel
schützend über das Kind.
Die Vision verblasst.
Langsam verlischt auch das Feuer in der Jurte. Die letzten Flammen zeichnen einen übergroßen Schatten an die Zeltwand. Die Alte. Ihre Nase wächst wie ein Schnabel aus dem Gesicht, der schwarze Umhang öffnet sich zu beiden Seiten wie Flügel …
„Geh“
Krächzt sie.
„Geh, es wird Tag …“
Ich stolpere hinaus auf die steinige Ebene, dem Horizont entgegen. Es dämmert. Wie so oft, wenn ich dieses Land zwischen Schlafen und Wachen durchquere. Dieses Land, das sich ständig verwandelt und in dem die Jurte die einzige Konstante ist.
Noch immer stehe ich unter dem Eindruck der Bilder. Das Kind in der Wiege, der schwarze Vogel mit den ausgebreiteten Flügeln und die Schamanin, die offenbar bei Anbruch des Tages selbst zu diesem Vogel wird.
Schwarz. Schwarz, das mich begleitet, so lange ich lebe.
Meine bunten Träume steigen aus diesem Schwarz empor, die Aquarelle, die ich male, Regenbögen, Blumenwiesen und Sonnenuntergänge. Schwarz laufen die Worte über den Bildschirm, wenn ich mir Geschichten ausdenke.
Schwarz hüllt mich ein, wenn ich friere, wenn ich Angst habe, und es ist genau dieses Schwarz, das bald darauf die Welt wieder leuchten lässt.
Dieses flatternde Schwarz war es auch, das mir bei jeder Veränderung meines Lebens über die Klippen half.
In der Ferne klingelt mein Wecker. Wieder ruft ein Tag nach mir.
Frühstück im Arbeitszimmer. Die obligate Tasse Kaffee neben mir, ein paar trockene Kekse achtlos in den Mund geschoben, versuche ich, die Bilder, die ich von der Schamanin empfangen habe, festzuhalten. Ein schwarzes Auge folgt dem Cursor, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Im Kirschbaum vor meinem Fenster sitzt, ungeachtet des Nieselregens, eine Krähe und schaut zu mir herein. Sie liest die Zeilen, sieht mir ins Gesicht und nickt. Dann schüttelt sie die Feuchtigkeit aus dem Gefieder - aber sie bleibt. Wie jeden Tag. So lange, bis ich mein Werk vollendet habe. Mittags, wenn ich mein Essen zubereite, geht auch sie auf Nahrungssuche, nachmittags, wenn ich mit meiner Tasse Kaffee zum PC zurückkomme, stellt sie sich wieder ein. Erst in der Dämmerung gleitet sie, lautlos wie eine Eule, davon.
Die Schamanin lehrte mich, zu verstehen und jetzt endlich kann ich diesen Schatten annehmen. Ich öffne mein Herz und schicke Liebe und der Dankbarkeit durch das Fenster. Die Krähe breitet die Flügel aus und deutet eine Verbeugung an. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass sie mein ganzes Leben lang an meiner Seite war, dass sie mit mir durch alle Höhen und Tiefen gegangen ist und es auch weiterhin tun wird.
Und wenn meine Zeit zu Ende geht, wenn ich all meine Bilder gemalt habe, wenn alle Geschichten erzählt sind, wird mich das Schwarz dieser Krähe ins Licht begleiten.
In meinem Unterbewusstsein höre ich die Schamanin lachen.
Kommentare
Schwarz kann bunt und leuchtend sein -
Und höchst poetisch - obendrein ...
LG Axel
Danke, lieber Axel, und danke für Eure Klicks.
LG, Susanna