Der Frühling und ich

Bild zeigt Alf Glocker
von Alf Glocker

Der Teufel sitzt am Tisch auf der Bühne und mosert … (flüsternd):

„Wir sitzen am Frühstückstisch, der Frühling und ich. Mein Name ist Luzifer. Erstaunt sehe ich dem Frühling beim Essen zu."

Der Teufel steht auf, geht ein paar Schritte – er spricht, während der Frühling – eine Frau in den mittleren Jahren, weiter isst:

„Der Morgen hat uns aus der Erstarrung geweckt. Nur das Flämmchen der Bewusstlosigkeit hielt uns in der Nacht vage am Leben. Aber das brauche nur ich zu bedenken, denn mein Gegenüber ist mit der Befriedigung einfachster Sinne beschäftigt. Jetzt jedenfalls schaut es bulläugig seine Semmel an, auf der sich Butter sowie eine Scheibe Schinken befindet. Sein Mund ist halb geöffnet und seine Zungenspitze ragt ein wenig daraus hervor. Es sieht aus, als solle die so lustvoll beäugte Speise vor dem Verzehr noch innig geküsst werden. Dann stülpt es sich geradezu ruckartig über die vorbereitete Speise, um ein Stück von ihr abzubeißen. Die Semmel hält es dabei fest in einer Hand. Die zweite, bei diesem Kraftakt nicht benötigte, ragt, wie von einem epileptischen Anfall verkrampft, in den Luftraum über der Tischdecke auf. Inzwischen quietscht das Opfer (die Semmel) beim Biss, was in meinen Ohren, unter den gegebenen Umständen, sogar erotisch klingt, und mir ist, als müsse sie etwas Masochistisches dabei empfunden haben. Weiß sie denn, wie weihevoll sie sich der Frühling einverleibt hat?“

Der Teufel schüttelt nachdenklich den Kopf.

„Jetzt sehe ich den verträumten Blick meines Frühlings – er starrt schon wieder verliebt sein Essen an – und dabei gerate ich selber ins Schwärmen. Mir fällt ein, wann er gewöhnlich so ausdrucksvoll guckt."

Teufel grinst schelmisch!

„Zum Beispiel hatte ihm gestern ein schwüler Morgen die Bettdecke weggezogen und die Sonne lachte aus seinem Fleisch, das vor Erregung zu beben schien. In seinen Augen leuchtete der Tatendrang so intensiv, als wolle sich die Energie der gesamten Schöpfung darin spiegeln. Und als armer Teufel wurde mir etwas schwindlig davon. Ein helles Seufzen entrang sich der Kehle des heißen Sonnengeschöpfs und der warme Hauch seines Atems traf mich wie ein Donnerschlag. Da will doch jemand zum Sommer werden, dachte ich noch verzweifelt, dann hatte ich bereits keine Kontrolle mehr über das Geschehen …
Plötzlich ragten mir steile Brustwarzen ins Gesicht. Geschmeidige Arme umfingen mich mit schier unentrinnbarer Gewalt. Schenkel taten sich auf und im Zentrum des Verlangens wartete das Geschlecht so anheimelnd sumpfig auf mich, als sei es bereit, aus seinem allesverschlingenden Biotop ganze Familien entstehen zu lassen."

Der Teufel schaut sich ängstlich um und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„An dieser Stelle fällt mir mein erster Besuch im Shakespeare-Theater vor ca. 400 Jahren ein. Dort wurde gerade die Uraufführung von ‚Romeo und Julia‘ gegeben.

Das Bühnenbild im zweiten Akt zeigte das Anwesen der Capulets mit Julias blumenumranktem Balkon und den Haupteingang des Gebäudes im Garten. Romeo, der sich über die Mauer eingeschlichen hatte, stand unter dem Fenster der Geliebten. Da trat Julia, einem inneren Drang folgend, heraus.
Der authentische Dialog ist mir, glaube ich, nicht mehr ganz geläufig ...“

Der Teufel gibt sich Mühe und beginnt zu rezitieren … während der Frühling am Tisch ruhig weitermampft.

„O Julia, o Julia,
die Biene war’s und nicht der Schmetterling."

Er erklärt den Zuschauern:
„Julia – zunächst gespielt erschrocken, dann vorsichtig erfreut – tritt vor und antwortet hell."

Dann verstellt er wieder seine Stimme und spielt die Julia …

„O Romeo, mein Romeo,
auf deinem Fußballfanschal
steht der Name meines Frauenarztes.
Hat den dein Mütterchen gestrickt?“

Wieder erklärt der Teufel …
„Romeo, der sich kaum noch beherrschen kann, protestiert heftig.

Es ist nicht angebracht, die Ungeduld zu lästern.
Was glaubst du, was der volle Mond mir flüstert?“

Der Teufel lacht über seine eigenen Worte, dann erzählt er wieder aus seinen Erinnerungen, was den heutigen Morgen betrifft

‚Heute ist es ungefährlich, wir brauchen nicht aufzupassen‘, säuselte der Frühling. Er lächelte hintergründig und schob mir seine spitze Zunge in den Mund. Ich verlor vorübergehend das Bewusstsein, grübelte aber vorher noch flüchtig darüber nach, ob er jetzt wohl ebenso handwerklich vorgehen würde wie sonst beim Essen. Vielleicht vertrat ich in diesem Augenblick eine Schinkensemmel?

Wieder lacht der Teufel …

„Als ich wieder zu mir kam, war mein vorwitzigster Körperteil so hart wie eine Eselsalami. Und der befand sich jetzt auch noch ganz dicht an der Pforte zum Paradies. Ich bemerkte es mit Schrecken: Vor mir tat sich ein Abgrund aus Gedankenlosigkeit auf. An eine Gegenwehr war aber nicht mehr zu denken, denn der Engel der Geilheit schwebte bereits über uns, um mein Tun großzügig abzusegnen."

Der Teufel setzt sich auf einen großen Stein aus Pappmaché … Er geht in die Denkerpose von Rodin …

„Ich kann nichts dafür: wieder fällt mir Shakespeare ein und ein weiteres Bühnenbild entsteht vor meinem geistigen Auge."

Er spricht laut seine Gedanken nach und im Hintergrund entsteht – wie von Zauberhand – eine Projektion auf der Bühne …

Der Teufel spricht …

„Es ist der vierte Akt. Der Marktplatz von Verona.
Julias pseudo-moralischer Bruder ist auf der Suche nach ihrem Verehrer. Doch Mercutio, der kluge Ratgeber Romeos, verwickelt Tybalt in ein Gespräch, das sich – durchaus von ihm geplant – zum Duell entwickelt. Der Philosoph beabsichtigt, das bevorstehende Treffen intellektuell zu zerreden. Aber sein Ansinnen misslingt und er sinkt, durch Romeos Missgeschick, der sich dämlich einmischt, von Tybalts Degen getroffen, zu Boden. Etwas traurig wirkend beruhigt er die Freunde:

‚Nichts weiter ist geschehen,
ihr müsst euch keine Sorgen um mich machen.
Die Wunde ist nicht so tief wie ein Brunnen –
und trotzdem tiefer als alle Zeit. –
Was nun geschieht,
entzieht sich leider meiner Kenntnis.

Meiner Kenntnis hatte sich inzwischen ebenfalls die Realität entzogen, die einem Theaterstück in nichts nachstand. Im Gegenteil: Auch ich konnte meine Rolle nicht einfach hinschmeißen, nur weil ich Lampenfieber hatte.‘

Ich weiß: Das Leben kann im Frühling genauso überraschend über einen Schauspieler kommen, wie ihn der Tod im Theater ereilen kann. Die Gefährlichkeit des Daseins ist mindestens ebenso groß wie die Feder eines hinterkünftigen Stückeschreibers."

Der Teufel runzelt die Stirn … das löst ein Gewitter aus!

Dann spricht er wieder:

„Längst habe ich durchschaut, was im Frühling wahrscheinlich mit uns geschieht. Durch das Aufbegehren der Natur hängt die Schwangerschaft über unseren Köpfen wie ein Damoklesschwert."

Gott tritt auf den Plan – als Mantelpavian …
Er zeigt mit dem Finger auf den Teufel und schimpft:
„Duu beklagst dich … elende Kreatur!!“

Der Teufel erschrickt. Er versucht sich zu verteidigen …

„Ich sah auf einmal, wie sich die Welt zu drehen begann. Alle ihre Bilder komprimierten sich kreisförmig um einen Mittelpunkt. Vor mir entstand eine gewaltige Sogwirkung, der ich mich nicht länger entziehen durfte. Die Wildheit der Natur ergriff meine Hypophyse und ließ sie zum Idol werden. Der Vorhang ging auf!“

Der Mantelpavian hebt die Hand … aber der Teufel spricht weiter:

„Im Nu hatten mich die Ereignisse in ein unwiderstehliches Zeitloch hineingezogen. Rhythmische Bewegungen setzten ein, und die sich aus der Wirbelsäule meinem Zentralen Nervensystem nähernden Reizwellen überfluteten nach und nach alle Hemisphären meines Innenlebens.
Der Frühling unter mir tat ein übriges, indem er in den melodischsten Tönen zu ‚singen‘ begann. Und auch der Mund meines Körpers öffnete sich wie von selbst, um den Menschen, der ich war, vor Lust stöhnen zu lassen. Das Ritual der höchsten Form sozialen Kontaktes strebte seinem Höhepunkt entgegen."

Gott schüttelt nur den Kopf.
Das sollt du nicht b-e-g-r-e-i-f-e-n. Du sollst es einfach tun und damit Schluss!!“

Doch der Teufel kann nicht anders, er spricht weiter zu sich selbst und erzählt …

„Schon halb der Welt entrückt, konnte ich mich noch ein letztes Mal aufspalten, in ein blind agierendes und ein betrachtendes Etwas, das sich an der Ästhetik des Vorgangs zu erfreuen versuchte, dann übernahm der Liebeswahnsinn die Herrschaft über alle meine Zellen."

Gott: „Siehst du?!“

Doch der Teufel hatte sich bereits in Rage geschwatzt …

„Ich begriff nur noch, was jetzt kommen sollte, wie es gewöhnlich kommt und wohin das Gekommene will. Aber für Bedenken, egal welcher Art, war es natürlich längst zu spät. Für einige lange Augenblicke erbrach sich schließlich meine Seele in die Urkraft des Universums hinein, womit sie mit sich scheinbar eine Leere auszufüllen versuchte, die ich als Luzifer niemals verstehen werde."

Gott: „Beruhige dich – auch du bist mein Geschöpf und auch du folgst den Instinkten."

Teufel: „Ja, so ist es wohl. Der Frühling hatte triumphiert. Erschöpft und zufrieden sank die Gesamtheit meiner Zellen auf dem anderen Körper zusammen und meine wahre Identität begann sich wieder abzuzeichnen. Ich erkannte mich als mich selbst und versuchte mich zu erinnern........."

Eigentlich sollte jetzt, an dieser Stelle, der Schluss aller teuflischen Überlegungen erfolgen. Aber etwas im Teufel ließ ihn nicht zur Ruhe kommen … er sinnierte …

„Ist die Szene mit Romeo und Julia am Balkon wirklich im zweiten Akt? Hat Tybalts Unbeherrschtheit Mercutius‘ Vernunft wirklich im vierten Akt besiegt? Hat Shakespeare wirklich im 16. Jahrhundert, wenn überhaupt, gelebt, oder habe ich mich nur selbst geträumt? Wer hat, in welchem Zusammenhang und in welcher Dekoration was genau gesagt? Bin ich aus einem Menschenleib geboren?“

Gott lacht und der Teufel spricht weiter …

„Wie dem auch sei – ich wäre nicht Luzifer, wenn es mir nicht, trotz allen Anfechtungen, gelungen wäre, im Stillen ein kleines Wunder zu verhindern.
Der Frühling wird mir erhalten bleiben. Seine Blüten werden für immer an ihrem Zweig erblühen, auch wenn sie schon längst matt und vertrocknet sind. Einen Sommer wird es nicht geben und schon gar keinen Herbst – kein Tragen und kein Ernten."

Gott: „Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen!“

Doch weil der Teufel immer das letzte Wort haben muss …

„Und damit weiß ich, was sich nun abzuzeichnen beginnt, denke ich auch noch Folgendes …. Eines Tages werde ich mich nicht mehr erkennen, weil ich mich selbst gefunden habe. Vor dem Spiegel stehend werde ich mich als einen Fremden betrachten, weil ich mir gänzlich vertraut geworden bin.

Wieder lacht Gott laut und schallend … dann hüpft er, als Mantelpavian verkleidet, von der Bühne, hinunter ins Publikum, wo er in der Menge untertaucht.

Der Teufel vollendet seine Darbietung …

„Vielleicht wird dann eine neue Schöpfung versuchen, mich in eine andere Welt zu verstricken, wo es wieder einen Frühling gibt, damit ich etwas zu ergründen habe. Und vielleicht möchte ich dann einfach, ohne zu verstehen, erleben, was es mit dem Phänomen ‚Leben‘ auf sich hat. Aber ich fürchte, ich werde erneut von seiner Eigendynamik so fasziniert sein, daß ich vor lauter Neugierde nicht akzeptieren kann wer ich bin: Einer, der den Frühling nicht einfach so hinnehmen will.

Der Vorhang fällt!

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