Du begibst dich auf einen Stadtgang in der Hoffnung auf Begegnung, schiebst dich durch das vielfarbige anonyme Menschengedränge, tauchst neugierig in die Geruchsgassen der Körpergausdünstungen ein, denen du dich auslieferst, dabei fluten unzählige Signale dein Gehirn, du riechst Nelke, Zimt, Angst, Einsamkeit und Alter, Liebe und Neid, der zähe Brei aus Gemurmeltem stülpt sich über die hastende Menge wie ein zu großer Hut, du hörst das Zwölfuhrgeläute, das immer noch mahnend von Kirchentürmen ruft - seid wachsam?, du triffst auf Menschen mit verkabelten Ohren und Blicken, sie reden in voller Lautstärke mit imaginären Freunden oder Feinden in fernen Welten, was geht dich ihr Geplärre an, dein Lächeln erreicht sie nicht, du fühlst dich ausgeschlossen und einsam mitten in der Menge, du bleibst vor dem russischen Geiger stehen, gibst ihm zwei Euro, weil er dich beeindruckt mit der sauber gespielten Händelsonate, unter den Theken der Kaufhäuser lauern immer noch Plastiktüten, denkst du wütend, ein junger Mann lässt dir beim Verlassen des Kaufhauses die Türe an den Kopf knallen, dabei wäre es so einfach gewesen, sie mit einem freundlichen Blick an dich weiter zu geben, und da ist die unauffüllbare Lücke der unermesslich großen Schuld mitten in der Stadt, die Stolpersteine aus Messing mit sehr deutschen Namen, vierzehn waren es im Haus Nummer elf, das heute einen Lampenladen beherbergt, vieles war schlechter, manches war besser damals, vielleicht schaute man sich eher in die Augen und kam ins Gespräch, da war mehr Respekt, wenn man sich begegnete, dazu gelernt haben wir wenig, schon lange hat sich keine Stubenfliege mehr zu dir verirrt, denkst du bestürzt, obwohl du die Fenster selten schließt, von Schmetterlingen in den Gärten ganz zu schweigen, doch allen berechtigten Ängsten zum Trotz kriecht dir eine einsame Schnecke auf dem Asphalt vor die Füße, unerwartete Freude, du nimmst sie behutsam auf und setzt sie im nahen Park aus, damit sie nicht von unachtsamen Füßen zertreten wird, warum nur frisst die Gier die guten Vorsätze stets auf, bevor sie sich verwirklichen, die Zeiten ändern sich eben, sagt man resigniert, stimm nicht stumm ein, pack die Stiere bei den Hörnern und steh auf dagegen, so gut du kannst … mehr fällt mir dazu nicht ein. Denn ich bin genau so verunsichert - und auf Hoffnung angewiesen wie du.
Stadtgang im Mai
von Marie Mehrfeld
Prosa in Kategorie:
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