Ich öffne das Fenster und schon donnert die Straßenbahn durch das Wohnzimmer. Mit lautem Klingeln durchquert sie durch den kleinen Raum und reißt alles mit sich, was zu nahe an den Schienen steht. Meinen Fernsehsessel, den Katzenkorb - zum Glück kann ich die Katze geraden noch am Fell packen und zurückreißen. Die Scheiben des Wohnzimmerschranks klirren. Das Lachen meines Kindes zerbirst, weil das Klavier in die Luft springt und die Noten seiner geliebten ‚Elise‘ mit der Bahn in der Ferne verschwinden.
Wir gewöhnen uns nie an daran, die Katze, das Kind und ich. Obwohl dieses silberfarbene Ungetüm alle zehn Minuten durch unser Zuhause rauscht. Pünktlich.
Früher, ja früher war das anders. Da zockelte die alte Nummer Elf durch das Wohnzimmer. Die Katze konnte während der Fahrt durch die geöffneten Fenster hinein - und hinausspringen. Ich reichte den Fahrgästen meine ausgelesenen Zeitschriften hinein und nahm leergetrunkene Pappbecher und zusammengefaltetes Butterbrotpapier entgegen. Früher blieb die Bahn manchmal mitten im Zimmer stehen, weil der Stromabnehmer von der Oberleitung gefallen war. Dann konnte ich mich mit den Fahrgästen unterhalten. Die Katze genoss die vielen Streicheleinheiten und so mancher Fahrgast stieg aus, um zu telefonieren – Handys gab es damals noch nicht - oder ‚Für Elise‘ auf dem Klavier zu spielen.
Seit ein paar Jahren ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. Seitdem die Hannöverschen Verkehrsbetriebe die ‚Silberpfeile‘ angeschafft haben, leben wir im Rausch der Geschwindigkeit. Und mit dem Sand, den der Triebwagen auf die Schienen entlässt, um die wilde Fahrt durch unser Wohnzimmer etwas abzubremsen. Dieser Sand setzt sich in jeden Winkel, in jeden Spalt. Zwischen die Zähne meines Kindes und in das Fell der Katze. Und er blockiert die Tasten des Klaviers, genau zwischen ‚Toccata und Fuge‘.
Wenn ich nachts die Fenster schließe, muss die Straßenbahn um das Haus herumfahren. Der Stadtbahnbetreiber sieht das nicht gern, weil der kleine Umweg Zeit kostet und den Fahrplan durcheinanderbringt. Die schweren Triebwagen der ‚Silberpfeile‘ verbrauchen dafür mehr Strom. Der ist teuer und das schlägt sich mit der Zeit auf die Fahrpreise nieder. Dann winken die Fahrgäste nicht mehr so freundlich aus den Fenstern, sondern drohen mit der Faust. Die Stadtverwaltung hat mir schon oft nahegelegt, auszuziehen, damit das Haus abgerissen werden kann. Man hat mir eine Wohnung versprochen, irgendwo im siebzehnten Stock, eine Schaukel für das Kind und ein neues Klavier. Aber ich gebe unser Zuhause nicht kampflos auf. Das Haus war zuerst da. Lange, bevor die Straße verbreitert und die Bahnlinie angelegt wurde. Auch das Klavier stand schon hier, als wir einzogen.
Außerdem stehen Haus und Klavier unter Denkmalschutz.