Gefährlicher Sommer (Teil 29; Text 2)

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ich habe den ganzen Sommer in mir
Die stolze Einsamkeit der Pappeln
Aus dem Aufruhr der Äcker blitzt die spitze Lerche

Ich liebe auch die Nessel, die Bettlerin der Straße
Mit den gesenkten grünen Wimpern
Viel Leid geschieht in der Sommerlandschaft …

Wir haben nicht nach Leid und Güte zu fragen
Wir haben nur einsam zu sein und einfach ...
(„Astral“; Yvan Goll)

Befreiung und Verhör

Kommisssar Fuchs nahm Heiner die Skizze aus der Hand und ließ verlauten: „Weiter. Nur weiter“, Herr Kendler. „Uns interessiert jede Kleinigkeit, die im Zusammenhang mit Ihrem verhängnisvollen Jagdfieber steht.“
Heiner seufzte ergeben.

„Je nun, dann habe ich wohl den größten Fehler meines Lebens gemacht“, brach es endlich aus ihm hervor; aber seine Worte fielen dermaßen leise, dass ich nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben.

„Nämlich?“, fragte streng das Füchslein, das ihm unmittelbar gegenüberstand.

„Ich bat Knut um eine Frist von drei Tagen. Ich wollte zuerst mit Helge reden, um ihn zur Vernunft zu bringen, habe gedacht, er würde die Wilderei augenblicklich beenden, nachdem er erfahren hatte, dass Knut ihm auf die Schliche gekommen war. Knut war schließlich eine Respektsperson auf Hof Lachau. Jedenfalls habe ich Helge noch am selben Abend von meiner Schwester aus in Kiel angerufen. Er befand sich ausnahmsweise mal auf seiner Studentenbude.“

„Lügenmaul, dreckiges!“, schrie Helge ihn an. „Du hast eine krankhafte Fantasie.“
Sein Gesicht war gerötet, die Augen quollen fast über und an seinem Hals traten die Adern hervor.
Aus unerfindlichen Gründen warf er mir einen wütenden Seitenblick zu.
Ich sah, dass die Gnädigste bei seinen Worten zusammengezuckt war, als habe sie ein elektrischer Schlag von einem der Zäune auf den Pferdekoppeln getroffen.

„... und am darauffolgenden Abend war Knut Knudsen dann tot“, fuhr Herr Fuchs ungerührt fort und hakte seinen durchdringenden Blick in Heiners Augen. Heiner nickte betroffen und rieb sich die schweißnassen Hände an der groben Arbeitshose trocken.

„Das darf doch wohl alles nicht wahr sein“, murmelte Opa. „Wir befinden uns doch nicht mehr im Mittelalter.“ Er schüttelte ein ums andere Mal sein weises Haupt.

„Haben Sie eine Ahnung, Herr Franzen. Das ist ein illegaler Markt, daran nicht allein Wilderer, sondern auch Gastwirte, Weißgerber und Lederverarbeiter beteiligt sind“, ging Kommissar Fuchs auf Opas Bemerkung ein. Der Kriminale schien nicht nur über den absoluten Scharfblick, sondern auch über ein vortreffliches Gehör zu verfügen.

„Herr Kendler, haben Sie Knut Knudsen getötet? Sagen Sie endlich die Wahrheit!“

„Nein, nein, und abermals nein“, wehrte Heiner betroffen ab.
„Knut war mein bester Freund.“

Er wurde von einem nahezu lautlosen Weinkrampf geschüttelt. Die Tränen strömten über sein wettergegerbtes Gesicht. Mit einem karierten Taschentuch, das er umständlich aus der Tasche seiner dunkelblauen Arbeitshose hervorgezogen hatte, fuhr er sich über die geröteten Augen. Herr Fuchs sah ihn zweifelnd an.

„Und weshalb haben Sie Ihren besten Freund nicht um Hilfe gebeten, als Herr Brandner Sie erpresst hat? Weshalb hielten Sie es noch immer nicht für nötig, die Polizei zu verständigen? War Ihr Gewissen derart belastet, dass Sie dazu keinen Mut dazu aufbrachten? Oder war Ihnen bereits alles egal?“

Heiner zuckte kleinlaut mit den Schultern. Sein Mienenspiel spiegelte eine seltsame Mischung aus Unmut und Angst.

„Na klar hat dieser Mistkerl von Melker Knut Knudsen ermordet“, brüllte Helge mit kaum zurückgehaltener Wut. In seinen Augen funkelte der reine Hass, und ich fragte mich, wo all die Bitternis und Feindseligkeit im Laufe der Zeit hergekommen seien. Die Gnädigste schien mir keinesfalls dafür verantwortlich zu sein.

„Ich habe es ihm ja selbst ...“

„'Befohlen', wollten Sie wohl sagen", Herr Brandner.“

Kommissar Fuchs lächelte ironisch. Helge biss sich auf die Lippen. Schweißtropfen perlten von seiner Stirn, die gewiss nicht allein von der Hitze rührten.

„Ich habe schließlich ein Alibi!“, brüllte er wütend.
„Ich war zur Tatzeit in der Vorlesung an der Uni in Kiel!“

„Ja, ja. Das wissen wir bereits. Wir sind darüber informiert, dass Sie sich auch dort ab und an mal haben blicken lassen, Herr Brandner“, sagte Herr Fuchs gelassen. Auf sein Gesicht stahl sich ein unergründliches Grinsen.
Ich warf einen Blick auf die Gnädigste. Sie sah mitgenommen aus, total erschöpft; auf ihrem schmalen Gesicht lag Ungläubigkeit, die sich mit Entsetzen paarte. Sie starrte Helge aus weit aufgerissenen Augen an.

„Bin ich dir nicht immer eine gute Mutter gewesen?“, flüsterte sie gequält. „... ich alles doch versucht, alles versucht ...“

Helge rührte sich nicht und starrte mit hochrotem Kopf in den Staub des Hofes, als verberge sich darunter die Antwort, weshalb er den dörflich stillen Zauber brechen musste, der von Anbeginn über Hof Lachau gelegen hatte – wie ich ihn wahrgenommen, ja, buchstäblich in meinen Knochen gespürt habe, seit ich meine Großeltern zum ersten Mal dort besuchte.

„Ich verstehe das alles nicht“, seufzte Mutti, eingehüllt in eine weiße Sommerwolke aus dünnem Leinen, mit einem tiefen, eckigen Ausschnitt und Spaghetti-Trägern, dünner als der kleine Finger von Hänsel, bevor die Hexe ihn gemästet hat.

„Welcher Mensch versteht eine derart scheußliche Affäre, Martha“, tröstete Opa seine zartbesaitete Stieftochter.
„Zu den furchtbarsten Exzessen kommt es immer dann, wenn sich Jagdhüter, in diesem Fall unser Knut, und Wilderer wie Helge und Heiner gegenüberstehen. Derartige Zusammentreffen haben schon so manchem braven Förster das Leben gekostet“, seufzte er.

„Entsetzlich“, hauchte Mutti mit porzellandünner Stimme.

Was für ein eisiger Sommer – trotz dieser beispiellosen Hitze, dachte ich und betrachtete verblüfft die Gänsehaut, die sich auf meinen Armen lümmelte. Die feinen hellen Härchen sträubten sich auf meiner sonnengebräunten Haut zu einem hauchzarten Babykükenflaum.

Herr Fuchs musterte eine Weile Heribert Wegner, der wie ein Häufchen Elend neben Leni verharrte, die sich auffallend ruhig verhielt.

Schließlich sagte er: „Sie, Herr Wegner, waren der Einzige, der Herrn Brander während der gesamten Vorlesung im Hörsaal gesehen haben will. Außer Ihnen kann das niemand der damals anwesenden Studenten und Studentinnen bestätigen. Sagen Sie endlich die Wahrheit und lösen Sie sich von dem verderblichen Einfluss, den ihr Kommilitone offenbar auf sie ausübt. Haben Ihre Eltern nicht schon genug Sorgen durch die Krankheit Ihres Vaters und den dadurch herrenlosen Hof?“

„Ja, gewiss, Herr Kommissar“, stammelte Heribert. „Mir tut das alles schrecklich leid. Ich habe ja nicht gewusst, was Helge im Schilde führte. Eigentlich wollte ich auch nur Katja kennenlernen, mit der ich kürzlich telefoniert habe. Wir wollten uns in der Uni treffen. Aber sie war wohl nur darauf aus zu erfahren, ob Helge zur Tatzeit tatsächlich in der Vorlesung war.“ Er warf mir einen traurigen Blick zu.

„Und weshalb haben Sie nicht sofort die Polizei verständigt, nachdem Sie den wahren Absichten von Helge Brandner auf die Spur gekommen sind?“

„Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, dass er den Hof meiner Eltern anzünden könnte, wenn ich mich von ihm abwende. Er hat dergleichen angedeutet.“

Ich zog eine Grimasse. Immerhin hatte er geduldet, dass Helge mich in ein tiefes Erdloch stieß und es offenbar auch dann noch nicht für nötig gehalten, umgehend die Polizei zu alarmieren, sondern in Kauf genommen, dass ich darin hätte verdursten oder von einem wilden Tier zerfleischt werden können.

„Ach, das ist also der überaus sensible Heribert Wegner“, grinste Hannes mir mit süffisanter Stimme ins Ohr.

„Haben Sie Kora Gerlach entführt, Frau Selma Gerlach überfallen und niedergeschlagen und Katja Kleve durch den Wald gehetzt und beinahe im See ertränkt, Herr Kendler?“ – Die Stimme des Kriminalen vibrierte vor Empörung.

Ich hielt gespannt den Atem an.

„Nein, ganz gewiss nicht, Herr Kommissar, das müssen Sie mir glauben. – Dafür ist ganz allein Helge verantwortlich“, hauchte Heiner mit rauer, tränenerstickter Stimme.
Sein Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen, er wirkte erschöpft.
Helge vollführte eine abrupte Geste, als wolle er dem Melker an die Gurgel.
Ich stutzte eine Moment lang und riss meine Augen auf, als habe mich ein Monster gebissen. Woher wusste das Füchslein ...?
Hannes, dieser elende Verräter, wich meinem Blick aus – mit einem Gesichtsausdruck, wie er unruhiger nicht sein konnte. Seine Augen sprühten im Sonnenlicht rote Funken.

„Was haben überhaupt wildfreme Menschen in meinem Wald verloren?“, jammerte die Gnädigste plötzlich, als sei ihr Heiners Aussage völlig entgangen. Aber gleich darauf wurde mir klar, was sich hinter ihren nebulösen Worten verbarg: Heiners Geständnis musste wie ein Keulenschlag auf sie gewirkt haben. Sie stand eindeutig unter Schock. Kröger sah seine Chefin besorgt an und Opas Gesicht triefte vor Mitleid.

„Da treiben sich auch oft Jugendliche aus Ratzeburg und Lübeck herum. Die schießen auf Eichhörnchen. Nur so zum Spaß, Frau Brandner“, trat Hannes zu guter Letzt noch voll ins Fettnäpfchen, nachdem er erstaunlicherweise die ganze Zeit über seine Klappe gehalten hatte. Konny schnaubte verächtlich und verpasste ihm einen Stoß in die Rippen.

„Wir fahren jetzt aufs Revier“, beendete Kommissar Fuchs das schauderhafte öffentliche Verhör. „Fräulein Kleve (nanu, seit wann siezte mich Sherlock Holmes?) und der junge Herr Kröger (mein Hannes) kommen mit, damit wir ihre Aussagen protokollieren können. Es hat doch niemand von den Herrschaften etwas dagegen? – Frau Brandner?“
Unsere tapfere Gnädigste winkte müde ab. Ihre Augen blickten leblos, als habe ihr jemand das Herz gebrochen. In ihr leichenblasses Gesicht hatte sich ein schmerzlicher Zug gegraben, und mir kam einen Moment lang der Gedanke, dass die Gnädigste aufgrund der widerlichen Tatsachen, die sich auf und um ihren Gutshof abgespielt hatten, dem Wahnsinn anheimfallen könnte. Ein Wunder wäre es nicht.

„Ich benachrichtige meinen Anwalt, Helge. Mehr kann ich im Augenblick nicht für dich tun.“
Sie nickte uns zu, mit letzter Kraft, wie mir schien, und verließ den Saal.

Helges Lippen, blutleer und bläulich schimmernd, erweckten den Anschein, als plagten ihn Frostschauer. Die tiefe Sonnenbräune seiner Haut war einer wächsernen Leichenblässe gewichen, und zum ersten Mal seit ich den Hoferben kannte, entdeckte ich einen Ausdruck von Furcht in seinen Gesichtszügen. Sein stumpfer Blick – aus Augen, unter denen tiefe Schatten lagen, irrte unstet am Horizont umher, als suche er einen Weg, der ihn aus all dem Schlamassel ins Paradies führen könnte. Mir war zumute, als spürte ich den inneren Konflikt, den er auszufechten schien, am eigenen Leib.

Helge schien hart mit sich zu ringen; es war jedoch bereits jetzt offensichtlich, dass er sich niemals würde überwinden können, seine augenfällige Schuld zuzugeben. Nach einer Weile stierte er nur noch ausdruckslos vor sich hin. Sein Unterkiefer zuckte, seine Lippen waren aufgeworfen wie bei einem trotzigen Kind.
Ich würgte das Mitleid hinunter, das mich mit einem Mal überfiel, obwohl ich ihn nach wie vor nicht ausstehen konnte.

„Dieser Typ ist von einer sowas von finsteren Aura umgeben. Da kann man glatt Angst bekommen! Wer weiß, was der sonst noch alles auf dem Kerbholz hat“, flüsterte Hannes mir ins Ohr.
Dann sagte er laut: „Katja und ich kommen mit dem Bus nach, Herr Fuchs. In Ihrem Wagen ist eh zu wenig Platz, und weder Katja noch ich möchten hinten neben Helge und Heiner sitzen.“

„Von mir aus“, willigte Kommissar Fuchs ein. „Trödelt aber bitte nicht herum. Wir haben in Lübeck eine Menge zu tun und können nicht stundenlang auf euch warten.

Endlich wurden Helge und Heiner wurden abgeführt. Zögernden Schritts und ohne sich eines Blickes zu würdigen, steuerten sie den Polizeiwagen an.
Herr Fuchs hatte seine Pistole gezogen und dirigierte die beiden auf ihre Plätze.
Bevor er die Wagentür geöffnet und sich auf den Fahrersitz niedergelassen hatte, fuhr ein weiterer Streifenwagen auf den Hof. Tante Agnes hatte in aller Heimlichkeit die Dorfsheriffs von Lachau herbeizitiert.
Einer der beiden Beamten, die im Auto saßen, stieg aus und stellte sich vor Herrn Fuchs' „Grüne Minna“.
„Lassen Sie mich doch bitte in Ihre Mitte, meine Herren“, befahl er mit Blick auf Heiner und Helge. Seine Frage hörte sich trotz der üblichen Höflichkeitsfloskel nicht den Deut nach einer Bitte an.

Ich war beruhigt. Flüchten konnten die beiden nun nicht mehr. Herr Fuchs winkte uns zu, stieg ins Auto, und beide Streifenwagen fuhren nacheinander vom Hof.

Und der Sommer schwieg beharrlich, schwieg zu allem, was sich auf Lachau abgespielt hatte. Kein urplötzliches Gewitter zog auf, noch nicht einmal ein leises Grummeln war zu hören. Ich schaute zum Himmel empor: Er war fast durchgehend weiß und plustrig – wie die flaumigen Federn eines unschuldigen Täubchens. Dabei hätte er sich, hitzig wie er diesen Sommer bisweilen daherkam, gut und gern in die Debatte einmischen können. Dem Getreide und den Feldern zumindest hätte ein kräftiger Schauer ungemein gutgetan.

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