Eine interessante und weiterführende Bekanntschaft am vorletzten Tag in einer australischen "Perle" am 9. April 2010
Als wir ihn zum ersten Mal sahen, hatte ich meine Kamera nicht dabei. Er tauchte über dem "Dolphin Rock" (markiert die nördliche Begrenzung des Strands von Sunshine Beach) auf und flog langsam und in geringer Höhe mit seinem roten Gleitschirm den Strand entlang. Es war unsere zweite Woche hier in Sunshine Beach an der australischen Sunshine Coast, und meine Grippe hatte mich so gut wie verlassen. Wir machten eine Strandwanderung am späten Nachmittag, der in den verbleibenden zwei Wochen noch viele folgen sollten.
Der Wind blies vom Meer her und er flog im Hangwind der mit Bäumen und Büschen bewachsenen Sanddüne, die zwischen dem Strand und dem Ort Sunshine Beach liegt. Er überholte uns nur langsam. Er war vielleicht 10 Meter über uns und ich vermisste meine Kamera. Es wäre ein schönes Bild geworden. Nach ca. 3 km Wanderung sahen wir ihn wieder. Er flog dicht vor einigen Häusern hin und her. Ich vermutete, dass er bald landen musste, da der Wind gegen Abend abnimmt. Dann könnte man sicher ein Gespräch mit ihm führen. Aber er kam und kam nicht runter.
Wir gingen weiter an dem herrlichen Sandstrand entlang, Richtung Süden und einem anderen Beach-Ort, Perigian Beach. Immer wieder schauten zu den Surfern, die sich auf, zwischen und auch oft unter den Wellen befanden. Vor zwei Jahren wohnten wir eine Woche am Perigian Beach an dieser zirka 15 km langen Sandstrandküste, vielleicht kommen wir bis dahin, wir sahen eine Ortschaft in der Ferne. Das fantastische mit den vielen und langen australischen Sandstränden ist, dass man so gut wie allein auf diesen wandert sobald man die Zone verlässt, die von "Beach Lifeguards" überwacht wird. Wir sahen bald ein, dass wir es nicht bis Perigian Beach schaffen und kehrten um.
Der Gleitschirmflieger segelte immer noch vor den Häusern. Neben dem letzten Haus befand sich ein kleiner Rasen mit einer Bank. Dort saßen einige Leute - vielleicht 5 Meter oberhalb des Meeresspiegels - sahen ihm zu und genossen gleichzeitig die schöne Aussicht. Ich hätte gern einige Fotos gemacht. Wir warteten eine Weile, gaben dann auf und gingen zurück. Es wurde langsam dunkel.
Bei unseren nächsten Wanderungen hatte ich (fast) immer die Kamera dabei und machte viele Strandbilder aber kein Gleitschirmflieger kam. An einem Tag war kaum Wind und ich verzichtete wieder auf die Kamera. Als wir zu der Stelle kamen, wo etwas oberhalb sich der kleine Rasen mit der Bank befindet, sahen wir einen Mann, der dort seinen roten Gleitschirm auslegte. Der Schirm mit den Leinen passte in der Länge gerade so auf den Rasenflecken. Dahinter befand sich eine Straße mit den Stromleitungen, die in Australien grundsätzlich oberirdisch verlegt sind. Zum Anlauf standen nur einige Meter zur Verfügung, dann kamen die Büsche. Das Gelände war abschüssig, was den Start bei diesem leichten Wind erleichtert. Ich bedauerte einmal mehr, dass ich die Kamera wieder nicht mitgenommen hatte.
Der Mann machte einen ersten Versuch, den Schirm in die Luft zu bekommen. Er brach ihn ab und versuchte es noch einmal. Diesmal stand der Schirm gut im Wind, der Flieger machte ein paar Schritte und flog. Er bekam gerade soviel Höhe, um über die Büsche zu kommen, danach flog er eine Schleife und man sah, dass er an Höhe verlor. Er landete ein gutes Stück weiter auf dem Sandstrand. Das wird wohl heute nichts mehr, dachte ich.
Wir gingen weiter bis wir keine Lust mehr hatten. Auf dem Rückweg sahen wir dann den Gleitschirmflieger kurze Schleifen vor den Häusern drehen. Er hatte es also doch geschafft. Auch diesmal hatte er es nicht eilig mit der Landung. Ich fragte mich, ob er auf der kleinen Grasfläche auch landen würde. Dann gingen wir zurück zu unserem schmucken Ort um einzukaufen.
Helmar Maier
Die Tage vergingen und nun hatten wir nur noch zwei Tage bis zu unserer Abreise nach Brisbane zur Sohnfamilie. Ich sagte zu meiner Frau: “Heute Nachmittag machen wir einen Spaziergang zu dieser kleiner Rasenfläche, wo der Gleitschirmflieger gestartet ist. Die Sonne scheint dann auf das Meer und wir haben eine gute Aussicht. Dann kann ich auch ein Bild von dem kleinen Startplatz machen. Wir nehmen den Straßenweg dorthin, da ich nicht sicher bin, ob man vom Strand aus durch die Büsche nach oben klettern kann.“ Gesagt getan. Wir schauten auf die Karte. Die kleineren Straßen den Strand entlang müssten uns zu unserem Ziel führen, aber die Straßen hier haben nicht unbedingt Verbindung miteinander, Umwege und Autoverkehr sind nicht ausgeschlossen. Wir kamen auch prompt auf eine verkehrsreiche Straße ohne Gehsteig. Wir sahen aber auf der Karte, dass bald eine Ausfahrt kommt und wir dann fast am Ziel sind.
Wir bogen ab in die Vernon Street, kurz danach rechts und dann hörten und sahen wir auch schon das Meer. Ich sah aber noch was, etwas viel Tolleres: Einen roten Gleitschirm mit dem zugehörigen Piloten darunter. Jetzt war er uns noch viel näher als unten vom Strand. Ich machte sofort ein Foto, falls er uns entwischen sollte.
Nur wenige Schritte und wir waren an dem kleinen Grasplatz. Auf der Bank saß eine Frau, und einige Kinder saßen im Gras und schauten auf den Flieger, wenn er nach dem Ende jeder Schleife dicht über unsere Köpfe flog. Ich machte Bilder aus allen Winkeln und war richtig happy. Meine Frau saß auf der Bank und sprach mit der Dame. Ich fragte mich, was wohl die Besitzer der Häuser davon hielten, dass jemand so oft immer wieder dicht an ihren Balkons vorbeifliegt, mit guter Sicht in die Wohnzimmer. Ein Schild am "Flugplatz" bzw. Straßenrand gab Auskunft, dass es sich hier um einen genehmigten Platz für Gleitschirmflieger handelt. Es muss sich um den kleinsten Flugplatz der Welt handeln. Später erfuhr ich, dass nur wenige Anwohner sich gestört fühlen. Das Fliegen hier ist offiziell erlaubt für die Mitglieder des kleinen Gleitschirmfliegervereins. Der Hinweis auf dem Schild: "Please Respect the privacy of residents" bedeutet hier wohl: Bitte nicht zu nahe an die Balkone fliegen.
Diesmal war ich entschlossen, bis zur Landung zu warten. Nach vielleicht 20 Schleifen war es soweit. Der Pilot zog mit beiden Händen gleichzeitig an den Steuerleinen, und ich sah, wie der Schirm sich mehr wölbte und langsam langsam an Höhe verlor. Es war klar, dass er direkt vor uns landen würde. Er flog bereits dicht über den Büschen, machte aber dann doch noch eine kurze Schleife, kam mit den Beinen in die Öffnung zwischen zwei Büschen und landete so exakt, dass der gesamte Schirm auf der Grasfläche zu liegen kam. Vorher rief er noch den Kindern zu, aus dem Weg zu gehen.
Der Pilot rollte den Schirm auf seine Arme und kam zu seinen Zuschauern auf der Bank. Mir war klar, dass wir ein Gespräch mit ihm beginnen müssen. Ich erzählte ihm über unser langes Warten auf einige Fotos und wollte wissen, ob er auch Tandemflüge macht, ich würde gern einmal mitfliegen. Er hat einen Tandemschirm, aber seine Lizenz dafür ist abgelaufen und er hat sie noch nicht erneuert. Deshalb ist ein Tandemflug zur Zeit mit ihm nicht möglich.
Da stellte der vielleicht 12jährige Junge die Frage, die viele stellen: Hast du keine Angst, wenn du fliegst? Der Pilot antwortete: „Wenn man niemals Angst verspürt, sollte man besser nicht fliegen. Angst hilft dir, immer besser zu werden und gefährliche Situationen zu vermeiden.“ Danach folgte eine ausführliche aber für Kinder verständliche Erklärung, warum man fliegen kann und wie man lernt, mit Hilfe des Windes den Schirm zu steuern und wie man verhindert, dass der Schirm den Piloten steuert. Wenn das passieren sollte, wird es nämlich lebensgefährlich.
Nach diesem kleinen Vortrag für die Kinder - und uns Erwachsenen - verstand ich, dass der Mann gern und gut erzählt. Ich fragte ihn, warum er heute so früh gelandet ist.
Er sagte: „Ich bin gleich nach der Arbeit (er ist Elektriker) hierher gefahren, um mich etwas zu entspannen. Ich hatte kein Wasser mit und spürte, dass ich aufhören musste. Außerdem wartet meine Frau mit unserem kleinen Kind zu Hause. Wir haben ein Haus Coolum, nicht weit von hier. Sie glaubt wohl, dass ich noch auf der Arbeit bin.“
Obwohl er müde und durstig war, war er nicht unwillig, sich mit uns zu unterhalten und erzählte einiges von seinem Leben. Er ist erst 41 Jahre alt, hat aber schon einiges erlebt:
Er ist in Papua Neu Guinea geboren, wo sein Vater als staatlich angestellter Gewerbeschullehrer arbeitete. Seine Eltern kommen ursprünglich aus Deutschland, Schwaben. Mit 13 Jahren wurde er in das nahe gelegene Australien geschickt, um dort die High School zu besuchen. Seine große Leidenschaft war das Surfen auf den Wellen. Später arbeitete er bei einer Zeitung in Brisbane. Da er Verwandte in den USA hatte, fuhr er hin um sie zu besuchen. Um etwas Geld zu verdienen arbeitete er dort einige Monate in einem Ferienlager. Danach zog es ihn nach Europa. In der Schweiz kam er mit einigen anderen jungen Abenteurern zusammen. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie sich durch das Renovieren von Chalets. Sie waren handwerklich geschickt und bekamen gute Aufträge. Doch Helmar vermisste das Meer und das Surfen. Zum Ausgleich begann mit dem Gleitschirmfliegen, das seine neue Leidenschaft wurde. Er erzählte von einigen Flügen über die Alpen, mit Zwischenlandungen auf schneebedeckten Berghängen.
Er lebte auch einige Zeit in Frankreich. Als Beweis begann er französisch zu sprechen. "Oh, très bien" antwortet ich stolperig, mais je préfère l'allemand". "No problem" antwortete er, "das kann ich auch" und begann deutsch zu sprechen. Er hat es nie in der Schule gelernt sondern von den Eltern mitbekommen. Auch wenn er nach einigen Wörtern suchen musste, ging es so gut, dass wir von nun an deutsch sprachen.
Nach einigen Jahren beschloss Helmar, wieder nach Australien zu ziehen, wo seine Eltern seit ihrer Pensionierung wohnten. Er schulte sich um zum Elektriker, da ihm das Handwerken in der Schweiz gefallen hat.
Helmar erzählte auch, dass sein Vater, jetzt 81 Jahre alt, ein großer Sammler von vor allem Steinwerkzeugen aus Melanesien während seiner Zeit in Papua Neu Guinea war. Viele seiner Objekte befinden sich heute in großen Museen. Als Helmar merkte, dass wir interessiert zuhörten, sagte er: "Ich gebe euch seine Telefonnummer und ihr ruft ihn an. Er unterhält sich gern auf deutsch und hat einiges zu erzählen."
Helmar hatte immer noch seinen Gleitschirm im Arm. Wir gingen auf die andere Straßenseite, wo sein Elektriker-Firmenwagen stand. Er schrieb seine Mailadresse und Telefonnummer sowie die seines Vaters auf ein Blatt seines Kalenderbuchs, riss es ab und gab es uns. Danach verabschiedeten wir uns.
Meine Frau und ich kletterten durch die Büsche hinab zum Strand und gingen zufrieden im festen Sand zurück zu "unserer" luxuriösen Villa, die uns keinen Cent kostete, dank der genialen Erfindung des Wohnungstausches.
Am nächsten Tag rief ich Helmars Vater Ottmar an. Es meldete sich seine Frau, die das Telefon aufgeregt an ihren Mann weitergab: "Ottmar, ein Mann aus Schweden, er spricht deutsch". Es wurde ein langes, interessantes Gespräch, das sich etwas unerwartet zu einer Lebens- und Fluggeschichte entwickelte.
Aber die gehört zu einer anderen Erzählung.
© Willi Grigor, 2010 (Rev. 2018)