Das innere Auge

Bild für das Profil von Heide Nöchel (noé)
von Heide Nöchel (noé)

Die Heizung simmert vor sich hin.
Doch dann verändert sich mein Sinn,
als ich die Augen schließe
und die Vergangenheit begrüße:

Frau Kirchhoff
Ich muss wohl 12 gewesen sein oder so …
Albert Schweitzer in Lambarene zu helfen, war ich definitv zu jung, also engagierte ich mich in meiner Kirchengemeinde. Mit Altruismus angefüllt bis zum Platzen, erkletterte ich die höchsten Treppenhäuser, um an Haustüren zu klingeln und von den ertappten Bewohnern Geld für die unmöglichsten Sachen zu erbetteln. Natürlich immer mit einer entsprechend abgesegneten Liste versehen, in der sich die überrumpelten Spender mit der Höhe des jeweilig gespendeten Betrages und ihrer Unterschrift verewigen konnten.
Natürlich schlossen sich auch Türen, mal mehr, mal weniger geräuschlos, oder man bekam blöde Sprüche zu hören wie: „Ich hab schon gespendet.“ (wie? Wenn ich doch als Einzige dieses Gebiet abgraste?), „Geht nicht, muss kochen!“ oder: „Hast du nichts anderes zu tun? Spielen zum Beispiel?“
Besonders dreist fand ich einen echten Speckbauch, der mir im ausgeleierten Unterhemd (Feinripp) und einer undefinierbaren Hose die Tür öffnete, in der er, eine Hand am Türrahmen, eine am oberen Rand der Tür selbst, stehen blieb und aufmunternd-interessiert mich mein volles Programm abspulen ließ. Ja, mehrmals sogar fragte er noch nach, um mich am Ende (ich hoffte schon auf 1 oder 2 Mark) freundlich anzugrinsen und meinen Faden: „Sie können sich dann hier eintragen ...“ aufzunehmen mit seiner unangebrachten Replik: „Ich kann mich auch auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln oder mir ein Loch in die Kniescheibe bohren und einen Blumenstrauß reinstecken.“ Bevor er, immer noch freundlich lächelnd, die Tür wieder schloss. Natürlich, ohne zu spenden.
Aber dann begegnete ich Frau Kirchhoff.
Ich hatte wieder an einer Tür geklingelt, ganz unter dem Dach, an der mittleren Tür jetzt, weil die beiden rechts und links nicht geöffnet worden waren.
Erst tat sich nichts, doch gerade, als ich resigniert wieder gehen wollte, öffnete sich diese letzte Tür für heute und eine kleine alte Dame stand vor mir. Ich spulte wieder mein ganzes Programm ab, sie hörte mir zu und sah an mir vorbei. Dann drehte sie sich um, holte ihr Portemonnaie und hielt es mir hin: „Hier bitte, nimm dir 50 Pfennig raus.“
Verblüfft und fast unangenehm berührt stand ich mit diesem fremden Geldbeutel vor der zerbrechlichen alten Dame und kramte geräuschvoll im Münzfach, bis ich ein 50-Pfennig-Stück in den Fingern hielt. Das kommentierte ich entsprechend und hielt ihr ihren Geldbeutel und das Geldstück wieder hin.
Sie nahm mir beides ab, fuhr mit ihrem Fingernagel entlang des geriffelten Randes der Münze und ließ mich wissen: „Ja, das sind 50 Pfennig. Ich bin blind. Willst du nicht reinkommen und eine Tasse Tee mit mir trinken?“
Das war das erste von etlichen Malen, dass ich bei Frau Kirchhoff echten ostfriesischen Tee mit Klüntjes (Kandiszucker) und Sahne trank, zubereitet von dieser blinden Frau selbst, die Wert darauf legte, die ganze ostfriesische Teezeremonie ohne fremde Hilfe zu absolvieren:
Kandis in die Tasse, heißen Tee drüber, dass ein feines Knistern zu hören war, den Löffel mit der Wölbung nach oben über die Tasse halten und darüber die Sahne einlaufen lassen, ohne, dass sie sich mit dem Tee vermischte. Und dann das Bittere des Tees genießen, Schluck für Schluck, ohne umzurühren, bis man auf den süßen Kandisgrund stieß.
Ich hatte den Eindruck, ich sei so ziemlich der einzige Mensch, mit dem Frau Kirchhoff Kontakt hatte. Sie erzählte mir viel von sich und wollte von mir genau so viel wissen, dabei knackte ihr Gebiss beim Sprechen und schien zu groß für sie zu sein. Oder sie war zu klein geworden dafür im Laufe der Jahre.
Frau Kirchhoff lebte ganz allein in zwei Zimmerchen. Die Eingangstür öffnete sich direkt in ihren kleinen Wohnraum. In dem anderen Zimmer bin ich nie gewesen, aber ich denke, es war ihr Schlafraum. Er schien jedoch geräumiger zu sein als der erste. Durch den Türspalt sah man jedenfalls auf den Ofen, auf dem der Wasserkessel simmerte.
Ich habe Frau Kirchhoff so ein bisschen adoptiert, bin für sie einkaufen gegangen und immer mit einem ostfriesischen Teeritual belohnt worden. Irgendwann machte sie die Tür nicht mehr auf und die anderen Hausbewohner konnten oder wollten mir nichts sagen. Ich habe nie erfahren, was mit ihr geschehen ist. Aber vergessen habe ich sie nicht, die kleine blinde Dame mit ihrem simmernden Wasserkessel auf dem Ofen.

Wie Wind die Zweige doch bewegt …
Das Laub flüstert unaufgeregt.
Es spricht mit meiner Phantasie.
Mit offnen Augen sah ich nie:

Urwald
Aber geträumt habe ich mein Leben lang davon.
Natürlich nicht von den Stechplagen und anderen Gefährlichkeiten wie Giftfröschen, Würgeschlangen, Piranhas oder Leoparden.
In meinen Träumen bewohnte ich eine Lichtung, umgeben von einer unglaublichen Palette von Grün. Da ich nichts brauchte, außer dem, was man rings um sich herum finden konnte, lebte ich das zufriedene, ausgeglichene Leben einer Einsiedlerin. Und da die Tiere mich liebten und achteten wie ich die Tiere, war ich ganz selbstverständlich Vegetarierin, ohne auch nur das Geringste zu vermissen. Selbst mein Süßhunger war nicht mehr so intensiv und ließ sich durch Früchte oder Nektar befriedigen. Die Bienen ließ ich lieber, wo sie waren, die Gefahr, gestochen zu werden, hatte mich gelehrt, ohne Honig auszukommen. Es war das bedürfnislose Leben eines Urwaldkindes im Einklang mit der Natur und dem einzigen Streben, auch den nächsten und alle kommenden Tage unbeeinträchtigt und ohne Schaden zu nehmen, genießen zu dürfen.

Ja, Sonnenstrahlen fördern Leben!
Ich streck ihr mein Gesicht entgegen,
und mit dem warmen Innenblick,
kommt auch ein kleines Kinderglück:

Omas Loggia
Oma Theas Loggia ging nach hinten raus.
Das Haus machte Ecke zu zwei Straßen mit Kopfsteinpflaster, Katzenköppe, wie sie genannt wurden. Rundgeschliffen und regennass glänzend habe ich sie in Erinnerung. Meine Liebe zu Backsteingebäuden rührt möglichweise genau aus dieser Zeit.
Von Omas Loggia aus konnte man über den Hof weg den baumumzirkelten Fußballplatz sehen und – wenn man daran interessiert war – auch ganze Fußballspiele, wenn auch aus der Entfernung. Ohne Eintrittsgeld. Ein echter Loggia-Logen-Platz.
Der Blick ging aber zuerst in den Hof, in dem damals noch und eine ganze Zeitlang eine Teppichstange aus Massivholz stand. Früher wurden tatsächlich wöchentlich darauf Teppiche ausgeklopft, auch von den Mietern der anderen beiden Eingänge.
Außerdem waren die Wege um die spärlichen Grasflächen mit Heizungsschotter gefüllt. Daher rührt auch meine bläuliche Narbe auf der Stirn, weil der Sohn des Kaufmannes (Name habe ich vergessen) mich mit voller Absicht auf den schotterumgebenen, verrosteten Ablauf mitten im Weg geschubst hatte.
Vor dem Fußballfeld fiel der Blick geradeaus auf den Streifen Garten, den Didi Osmos sich, seinem Gemüse und seinen Hühnern eingerichtet hatte. Auf der rechten Seite, begrenzt vom Hühnerdraht des Gartengeländes der Nachbarhäuser, erhob sich eine quadratische Sandkiste mit ausgebleicht-splissigem hölzernen Sitzrand. Dort konnte ich herrlich träumen, den Gartenwinden beim Blühen zusehen und dabei, wie sie mit ihren Rankenfühlern neue Gelegenheiten zum Festhalten ertasteten.
Omas Loggia war unheimlich heimelig, ummauerte Geborgenheit. Weiß gestrichene Mauern gaben Schutz vor Nachbarsblicken und Sturmgebraus. Und in meiner Erinnerung schien dort immer die Sonne, wie die Küche, von der sie abging, stets in fast schwedisches Sommersonnenflair getaucht war. Dazu trugen natürlich auch die weißen Sprossenfenster bei. Jeden Sommer komplettierte das Bild von der Seite her eine riesige Hängefuchsie, rote Blüten, weiß gefüllt. Das gehörte einfach dazu.
Ich habe ebenfalls eine Loggia, wahrscheinlich war sie der Grund, warum ich genau diese Wohnung wollte. Sie ist ein Ideechen kleiner als Omas, und sie geht zur Straße raus. Zudem wird sie nicht von einer Hängefuchsie geschmückt, weil ich einfach keinen grünen Daumen habe. Und dann: zur Straße hin …
Aber immerhin eine Loggia!

Dann dieses Plätschern, dieses Rauschen!
Ich könnte unablässig lauschen …
Ein Springbrunnen kann mich verführen,
den Blick im Innern zu verlieren:

Wasserspiele/-orgel
Fließendes Wasser fasziniert mich. Es mag Menschen geben, die das ständige Raunen nervös macht, aufregt, irritiert – mich beruhigt es ungemein.
Mein – für mich – rätselhaftestes Wasser-Erleben hatte ich als etwa Zehnjährige: Eine Wasserorgel!
Ich weiß noch nicht mal, wo das war, aber dieses mich beschäftigende Erlebnis habe ich Oma Anni zu verdanken.
Ich weiß noch, es war ein riesiges Ausstellungsgelände, von der heutigen Erfahrung her würde ich sagen – eine Messe? Es muss wohl etwas mit Gärtnern zu tun gehabt haben, denn ich kann mich an viele bunte Rabatten und Pflanzungen erinnern.
Wir brachten die Zeit rum, denn wir warteten auf etwas.
Dann, zu einer bestimmten Zeit, ertönte Musik, Orgelmusik und die größer gewordene Menschenmenge erging sich in Ohs! und Ahs!
Auf kurze Distanz schossen Wasserfontänen in die Luft, sie tanzten zum Takt der Musik und sie wurden farbig angestrahlt! Waren es zehn Minuten? Jedenfalls bot es mir einen unbeschreiblichen Zaubergenuss, Wasser, das exakt zum Takt der Musik rote, blaue, grüne, weiße, violette, gelbe, orange Fontänen mal himmelhoch explodieren lässt, mal sanft-runde Bögen strahlt – etwas dermaßen Schönes habe ich seitdem nie wieder gesehen. Wohl Wasserorgeln generell, aber so viel Eindruck hinterlassen wie diese hat bei mir keine mehr.

In diesem Duft liegt Sonnenschein.
Blind tret ich durch die Pforte ein,
die vor dem innren Aug entsteht,
durch die es ins Gefühlsreich geht:

Brombeergestrüpp
Das Non-plus-ultra der sinnlichen Genüsse stellt für mich ein ganz spezieller Duft dar: Brombeergestrüpp, von der Sonne beschienen.
Dass Pflanzen ätherische Öle entwickeln können und Wärme diese erst so richtig zur Entfaltung bringt, das weiß man ja. Man weiß auch, dass frühestes Erleben – noch vor der Sprachentwicklung, also bevor man Eindrücke mit Wörtern benennen kann – über Geruchseindrücke im Gehirn gespeichert wird.
In meiner Erinnerung sehr gut verborgen scheint auch der Grund, warum genau dieser Duft nach sonnenerwärmten Brombeerbüschen mich voll auf der sinnlichen Ebene trifft.
Ob es so etwas ist?
Ich weiß nur, dass dieser sonnenwarme Brombeerbuschduft mich ohne Ende Wohlbefinden einatmen lässt, tief einatmen, bis in die Lungenspitzen. Über diese Schiene kann man mich „kriegen“.
Wenn ich diesen Duft rieche, bin ich in einem Augenblinzen auf eine sonnige Waldlichtung gebeamt und dort eins mit der Umwelt. Die Bäume, das Gras, die Büsche, wir verstehen uns ohne Worte. Sie nehmen mich auf als gleichwertig und ich weiß alles, genau wie sie, es gibt keine Fragen mehr, nur ein leise summendes Wohlgefühl.
Dann "bin" ich nur.
Warum auch immer.

noé/2016

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