Im vergangenen Winter brach ich mir das rechte Bein und war für längere Zeit ans Bett gefesselt. Die hochbetagte Freundin meiner verstorbenen Mutter besuchte mich fast täglich und gab sich alle Mühe, mich mit amüsanten Geschichten aus ihrem bewegten Leben bei Laune zu halten.
Eines Nachmittags, ich durfte derweil an Krücken laufen, saßen wir bei einer Kanne Ingwertee in der Caféteria des Hospitals. Ich wartete gespannt auf die nächste Anekdote, als unversehens eine traurige Ernsthaftigkeit ihre heiteren Züge trübte; ein finsterer Gedanke, der sich wie eine Regenwolke über ihr Gesicht gelegt hatte, schien sie nicht mehr loszulassen.
„Ich möchte dir ein Erlebnis aus meiner Kindheit erzählen“, begann sie stockend. „Es trug sich 1952, nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Ich war damals fünfeinhalb. Mein aus russischer Gefangenschaft entlassener Vater hatte in Hamburg, wo meine Mutter nach der Flucht aus Pommern gestrandet war, Arbeit beim Zoll gefunden. Wir wohnten im Dachgeschoss einer romantischen, wenngleich unkomfortablen Villa mit freier Sicht auf die Elbe, heutzutage kaum noch bezahlbar.
Eines Nachmittags im Spätsommer, Mutter und ich hatten alle Hände voll zu tun, den vierzehntägigen Waschtag zu bewältigen, stand wie aus dem Boden gestampft eine abgerissene männliche Gestalt im schummrigen Licht unseres Korridors.
Wir waren mit all unseren Sinnen in die schweißtreibende Arbeit vertieft gewesen und hatten den Eindringling nicht kommen hören. Mutter schob die Küchentür auf, und die Helligkeit, die durch die breite Fensterfront fiel, sickerte in den Flur, so dass wir den Mann näher in Augenschein nehmen konnten. Falls Mutter sich bei seinem Anblick erschrocken hatte, so ließ sie sich nichts dergleichen anmerken. Mir hingegen schlotterten vor Angst die Knie.
Er war von kleiner, gedrungener Statur, an die fünfzig, aber darin mag ich mich irren; denn es handelte sich bei dem Störenfried, das war unschwer zu erkennen, um einen Tippelbruder, der freilich nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Weggefährten des Waisenjungen Rasmus aus meinem Lieblingsbuch hatte. Jener gutherzige „Paradies-Oskar“ war der einzige Vagabund, den ich damals „kannte“. Der heimatlose Geselle hingegen, der sich in unsere Wohnung geschlichen hatte, sah arg verwahrlost und nicht ungefährlich aus: Sein graues Haar war verfilzt und stand wirr vom Kopfe ab, und sein wettergegerbter Teint war von bläulich-roten Äderchen durchzogen; die größte Angst freilich flößten mir seine wässrigen hellblauen Augen ein: sie blicken dermaßen scheel, als missgönne er uns das Salz in der Suppe. Aus einer der ausgebeulten Taschen seines verschmutzten Jacketts lugte der Hals einer Flasche hervor, und schon sah ich Mutter und mich mit blutenden Köpfen auf dem Linoleum liegen. Es würde noch Stunden dauern, bis Vater von der Arbeit heimkäme. Bis dahin wären unsere Leichen verwest, und die Fliegen, vom süßlichen Geruch unseres Fleisches angelockt, hätten ihre Eier in unsere Wunden und leeren, toten Augen gelegt. Er hingegen wäre längst auf und davon – mit dem Haushaltsgeld, das Mutter im Küchenschrank aufbewahrte. Mein älterer Bruder genoss es alleweil, mir mit haarsträubenden Geschichten panische Angst einzuflößen, damit meine blühende Fantasie ja nicht ins Welken geriet.
Als sich der ungebetene Gast an die Lichtflut gewöhnt hatte, fiel sein Augenmerk auf das Panorama der Elbmarsch, und er setzte das gleiche Gesicht auf, das unsere Bekannten machten, wenn sie aus jenem Fenster blickten. Vater nannte sie ausnahmslos „Fernwehkranke“ – mit dem fieberhaften Verlangen, auf einem der Bananendampfer nach Costa Rica zu schippern. Vermutlich haben wir ähnlich dreingeschaut, als wir zum ersten Mal unsere Küche betraten.
„Hätten Sie vielleicht einen Zipfel Wurst für mich, gute Frau?“, wandte sich der Landstreicher mit weinerlicher Stimme an meine Mutter, nachdem er mich mit einem feindseligen Blick gestreift hatte.
„In der Not isst man die Wurst auch ohne Brot“, kam mir prompt in den Sinn, jener Spruch, den Mutter zitierte, wenn mein Bruder sich nach dem Auspacken unserer Einkäufe auf die Salami stürzte. Und wenn Mutter gebacken hatte und wir schon mittags ein Stückchen Kuchen erbetteln wollten, seufzte sie: „Kuchen sagt Nanther, wenn er Brot hätte“, wonach ich mir jedes Mal den Kopf darüber zerbrach, wer jener Bursche mit dem drolligen Namen wohl sein könne.
Mutter schritt wortlos zum Eisschrank, nahm die Dauerwurst heraus und teilte sie mit dem Fleischmesser in zwei Hälften. Der Landstreicher war uns in die Küche gefolgt und betrachtete meine Mutter von Kopf bis Fuß. Sein lüsterner Blick missfiel mir sehr, und ich hoffte, dass er endlich von dannen zöge. Mutter reichte ihm die Wurst, und er bedankte sich mit honigsüßen Worten, die in meinen Ohren heuchlerisch klangen. Endlich schickte er sich an, das Zimmer verlassen. Seine gute Absicht fiel überaus halbherzig aus: Er bewegte sich zögerlich und hielt den Kopf in Mutters Richtung gewandt, als dauerte ihn, sich von ihr trennen zu müssen. Ihm konnte kaum entgangen sein, dass wir uns 'mutterseelenallein' im Dachgeschoss befanden. Ich hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, um unmissverständlich klarzumachen, dass mit mir nicht zu spaßen sei, aber es verging noch eine bange Weile, bis er endlich das Feld geräumt und die Flurtür hinter sich geschlossen hatte.
Tage und Wochen verstrichen, in denen ich befürchtete, der Wurstzipfelmann, so hatte ich den zwielichtigen Stromer getauft, könne zurückkehren; aber glücklicherweise tauchte er nie wieder bei uns auf. Gleichwohl träumte ich monatelang Nacht für Nacht denselben düsteren Traum, aus dem ich jedes Mal schreiend erwachte: Ich streife stillvergnügt durch das hohe Schilf am Elbeufer, als mir zu meinem Entsetzen der Wurstzipfelmann in die Quere gerät. Er hockt auf einem verrotteten Pfahlstumpf, die Hand um ein Vogelküken gekrallt. „Wenn du gut auf ihn acht gibst, darfst du ihn auch mal halten“, brabbelt er mit heimtückischer Stimme, aber noch bevor ich meine Hände ausstrecke, um den winzigen Federflausch zu umfangen, quetscht er das Tier mit seinen derben Fingern zu Tode.
„Jetzt hast du meinen besten Freund umgebracht. Dafür wirst du mir büßen“, geifert der Lump, zieht die Schnapsflasche aus dem Jackett und zerschlägt sie auf meinem Kopf.
Draußen dämmerte es bereits. Meine Bekannte ließ sich erschöpft und sichtlich bewegt gegen die Stuhllehne fallen und nippte an ihrem Tee, der längst kalt geworden war.
veröffentlicht in "Wurst" eine Anthologie des Herbert Utz Verlag GmbH 2012
Kommentare
Die starke Story kriegt Applaus!
(Krause meint - ICH säh' so aus ...)
LG Axel
Man dankt, Mijnheer - und
Krause hat Mut -
aber höchstwahrscheinlich
sieht sie nicht mehr so gut.
Zum nächsten Augenarzt sollte der Weg sie führen;
irgendjemand muss sie begleiten,
sonst rennt sie womöglich noch Türen
ein.
LG Annelie
Die Krause braucht gar keine Brille -
Bei der scheint das rein böser Wille ...
LG Axel
... Türen braucht diese Dame eh nicht,
was ihr im Weg ist, das stört sie wenich ...
Das ist ein echter Gruseltraum ... brrrr ... aus einem echten Erlebnis erwachsen ...
Ja, Noè, leider - und solche Träume suchen mich deshalb auf, weil ich mich oft so sehr grusele.
Danke für deinen Kommentar.
LG Annelie