Die Gedanken der sterbenden Hanni - Page 2

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zweites Stück ab und genoss es mit einem gewissen Trotz.

Tag 12

Von ihrem Bett aus konnte Hanni aus dem Fenster blicken, was sie gerne und häufig tat. Sie sah dann die obere Hälfte einer Baumkrone, ringsherum unscharf irgendwelche grauen Gebäude. Der halbe Baum war im Verlauf für Hanni immer vertrauter und wichtiger geworden. Von ihm kannte sie inzwischen jeden einzelnen Ast mit all seinen Krümmungen. Sie bemerkte zudem die kleinsten Veränderungen, wenn zum Beispiel das Wetter an ihn gezerrt hatte. Windige und regnerische Tage waren für Hanni besonders schmerzhaft. Zum Glück konnte sie sich währenddessen durch das beeindruckende Schauspiel vor ihrem Fenster ablenken: Wie die Tropfen unaufhörlich an die Scheibe prasselten und wie die Äste sich aufs Äusserste bogen. In der Schule war ihr gelehrt worden, dass kein Mensch imstande war, einen Baum oder sogar ein Strohhalm mit den gleichen flexiblen Eigenschaften nachzubauen. Das hatte sich nicht verändert.
Heute war windstill und ein besonders guter Tag. Hanni konnte nämlich sehen, wie ein Vogel herbeigeflogen kam und sich auf einen der Äste setzte. Sie fühlte sich dadurch nicht mehr so alleine. Ein anderes Lebewesen, das still und ruhig an derselben Stelle blieb. Hanni erkannte keinen Grund für die Regungslosigkeit. Menschen waren dazu nicht in der Lage. Sie waren getrieben bis zum Augenblick, wo Umstände sie zwangen auszuharren. Anfangs, als Hanni bettlägerig wurde, war dies für sie sehr schwierig gewesen. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran oder man findet sich damit ab, dachte Hanni. Genau wusste sie es nicht. Auf die Dauer war es einfach zu anstrengend geworden, wütend auf das Schicksal zu sein und Widerstand gegen die Krankheit zu bieten.
Der Vogel flog davon. Ihr Blick blieb dennoch auf den Baum gerichtet, dessen satte Grün beruhigend und belebend wirkte. Es war Leben! Sie starrte darauf und vergass dabei die Zeit, den Ort… Ihre Gedanken brachten sie zurück in die Kindheit, zum Teich hinter dem Elternhaus. Dorthin, wo sie oft mit ihrer Freundin Sophie gespielt hatte. Sie hatten die Libellen gezählt und Frösche gefangen. Letztere steckten sie in ein Konfitüreglas, denn sie sollten wie im Bilderbuch das Wetter hervorsagen. Dafür hatten sie auch extra eine kleine Leiter gebastelt, wo sie hochklettern konnten. Aber irgendwie funktionierte es nicht. Die Frösche hüpften voller Angst auf den Boden herum. Aus Mitgefühl hatten die Mädchen sie dann in die Freiheit entlassen. Gleichermassen wartete Hanni jetzt auf ihre Befreiung vom Bett des Pflegeheims. Sophie war bereits auf dem Friedhof.

Tag 11

Neue, furchtbare Schmerzen rissen Hanni aus dem sonst recht friedlichen Nachmittagsschlaf. Es hämmerte und tobte in ihrem Bauch. Speere stachen auf sie ein. Augenblicklich heulte Hanni auf und spannte unbewusst ihren Körper massiv an. Eine natürliche Reaktion, doch der Schmerz intensivierte sich dadurch. Darum begann Hanni nun aus Leibeskräften zu schreien. Unentwegt liefen ihr dabei Tränen über das Gesicht. Das Leiden war für sie unerträglich. Ihr Schreien ging kurz darauf in ein herzzerreissendes Wimmern über. Sie versuchte nebenher irgendwie an die Klingel zu kommen, was jedoch gar nicht nötig war. Ein Pfleger war bereits gekommen. Sie war so froh, als sie ihn sah. Er hatte eine Spritze in der Hand, bereit zu stechen. Sie alle kannten diese Schmerzattacken. Die Momente, wo die Patienten aus dem Nichts überfallen wurden. Deshalb wurde vorher darüber gesprochen und entschieden, was in einem solchen Fall getan werden sollte. Hanni mochte grundsätzlich die Opioid haltigen Schmerzmedikamente nicht, aber beim Eintreten eines solchen Ereignisses war sie damit einverstanden gewesen. Der Pfleger setzte die Nadel an ihren Oberschenkel, stach in die Haut und drückte die Flüssigkeit in den Muskel. Hanni wusste, dass es nur mehr ein paar Minuten dauern würde, bis der Schmerz weg sein würde. Doch die paar Minuten dauerten lange. Absurder Weise fiel ihr Einstein ein, der über die Relativität der Zeit gesagt haben soll, dass eine Stunde mit einem schönen Mädchen kürzer sei, als eine Minute sitzend auf einem heissen Ofen. Der Pfleger wartete mit ihr und hielt ihre Hand. Sie klammerte sich an seine, drückte fest, wahrscheinlich tat es ihm sogar weh. Aber er sagte nichts. Langsam spürte Hanni, wie die Wirkung des Morphins eintrat. Die Schmerzen wurden weniger. Hanni entspannte sich. Sie fühlte wie sich Watte um sie legte. Die Dosis ist wahrscheinlich etwas zu hoch gewesen, dachte Hanni. Es war ihr egal. Sie spürte wie ihr leicht wurde. Glück stellte sich ein.

Tag 10

Die Pflegerin hatte nach dem morgendlichen Lüften vergessen, das Fenster in Hannis Zimmer zu schliessen und den Rollladen bis auf halber Höhe runterzulassen, damit Hanni vor der Sommerhitze geschützt war. So drangen die Sonnenstrahlen ungehalten ein. Hanni begann zu schwitzen. Gegen Mittag bildeten sich die ersten Schweissperlen auf ihrer Stirne. Doch Hanni klingelte nicht. Bald würde nämlich das Sonnenlicht direkt auf ihr Gesicht fallen. Das wollte sie fühlen. Noch ein einziges Mal. Nach dem gestrigen Tag wusste sie, dass ihr Ende in die Nähe gerückt war. Zunächst eroberten die Strahlen die Bettdecke, dann ihr Kinn. Kurz darauf spürte Hanni die Wärme der Sonne auf dem Gesicht. Es war schön.
Nach einem kurzen Anklopfen trat dieselbe Pflegerin wie am Morgen wegen dem Mittagessen in Hannis Zimmer ein. Als sie die schweissgebadete Frau im Bett sah, war sie über ihr eigenes Fehlverhalten entsetzt. Doch Hanni lächelte der Mitarbeiterin beruhigend zu und meinte, dass es halb so schlimm sei, sie werde nicht an Hautkrebs sterben. Darauf mussten sie gemeinsam lachen. Ein Moment des Wohlergehens. Hanni hatte früher viele Witze gemacht, besonders ihr Ehemann hatte auf ihren Humor angesprochen. Manchmal hatten sie sich schon fast vor Lachen gekugelt. Es waren gute Zeiten gewesen. Insgeheim erhoffte sich Hanni, dass es doch ein Jenseits gab, wo sie Jacques wieder treffen würde.
Am späteren Nachmittag kam die Betreuerin erneut zu Hanni. Sie habe eine Überraschung für sie Hanni konnte sich nichts darunter vorstellen. Unerwartete Ereignisse war in letzter Zeit immer negativ gewesen. Darum wurde sie effektiv überrumpelt, als die Pflegerin ihr Bett aus dem Zimmer rollte, in den Lift und in den Park fuhr. Sie werde sie in zwei Stunden wieder abholen. Dann war Hanni alleine. Sie lag in

In der Schweiz gibt es das ß nicht, nur ss oder s.

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