Die Gedanken der sterbenden Hanni

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Tag 14

Nein! dachte Hanni wütend und voller Enttäuschung als sie die Augen aufschlug und ihr dadurch klar wurde, dass sie immer noch am Leben war. Das wollte sie nicht, nicht mehr. Mit der Wachheit kehrten auch ihre körperlichen Schmerzen zurück. Es tat weh, es tat überall weh. Wenn sie dies den Pflegenden sagte, glaubten sie ihr nicht. In deren Vorstellung konnte einem nicht alles schmerzen. Sie fand aber keine Stelle, wo sich ihr Körper gut anfühlte. Man erhielt mehr Mitgefühl, wenn man nur rasende Kopfschmerzen oder ein furchtbares Rückenleiden hatte. Für das Ganze gab es nichts, höchstens Tadel, man solle nicht so pessimistisch sein. Sie hatte allen Grund schwarz zu sehen - sie lag auf der Palliativstation.
Ihre lauten Atemgeräusche holten sie aus ihren trüben Gedanken. Sie sah auf ihren Brustkorb hinab, der sich schwerfällig und viel zu schnell hob und senkte. Dieser kämpfte ums Überleben. Sie fragte sich, warum. Ihr Kopf hatte sich schon lange damit abgefunden. Das mit dem Sterben. Sie hatte zwar keine Ahnung, was der Tod sein sollte, viel schlimmer als der jetzige Zustand konnte er nicht sein. Sie hasste auch das Gefasel über ein Jenseits. Engel waren etwas für kleine Mädchen in rosa Röcken, welche brav sein sollten. Eigentlich wurde durch sie deren Selbstsicherheit untergraben, da es für alles einen Helfer brauchte. Zum Schlafen, auf dem Schulweg, bei den Prüfungen. Du kannst nichts und bist also nichts. Das sogar immer noch im 21sten Jahrhundert. Und sie, Hanni, hatte an vorderster Front für die Frauenrechte gekämpft. Das Resultat war beschämend. Anstatt dass die Männer die Hälfte der Frauenarbeit übernahmen, wurden heute bezahlbare Kinderkrippen gefordert oder die Frauen mussten einfach beides machen, Haushalt und Job. Nie hat jemand die Männer in Frage gestellt. Nicht einmal die Frauen.
Die Enttäuschung lag Hanni schwer auf der Brust. Sie schnaufte noch mehr. Den letzten Atemzug machen, davon träumte sie. Seit der unheilvollen Diagnose, erst recht seit klar war, dass die Therapien nicht anschlagen würden, sondern sie einfach nur geschwächt haben. Manchmal wie im Augenblick fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, einfach nichts zu unternehmen. Es geschehen lassen. Die letzten Tage geniessen. Der Tod wäre vielleicht rascher eingetreten. Doch für Reuegedanken war es zu spät. Hanni blieb nur mehr das Warten. Auf ihr Ende. Ihr kam ein Kinderlied in den Sinn: ,,Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.’’ Offenbar musste sie immer wieder geweckt werden. Weggerissen vom Schlaf, der ihr etwas Abhilfe von ihrem leidvollen Zustand verschaffte. Hanni war wach. Es waren vielleicht zehn Minuten vergangen, seit sie die Augen aufgeschlagen hatte. Die Zeit ging langsam vorüber, wenn man am Warten war.
Man wartet beim Arzt im Wartezimmer, an der Bushaltestelle, auf das Volljährig sein,… Warten ist das Gegenteil von Tun, dachte Hanni. Oder vielleicht sogar von Leben? Daraufhin richtete Hanni ihre Aufmerksamkeit bewusst auf ihre Atmung, so wie sie es in der Atemtherapie gelernt hatte. Einatmen, ausatmen, die Phase dazwischen wahrnehmen und wieder einatmen. So etwas Blödes, ging Hanni durch den Kopf. Aber es half. Sie wusste nämlich inzwischen, wenn ihr Gedankengang sie in die Verzweiflung treiben würde.

Tag 13

Schokolade, sagte Hanni laut, obwohl niemand sonst im Zimmer war. Sie hatte Lust auf ein Stück Schokolade. Sie wusste, dass in der Schublade des Nachttisches eine Tafel lag. Dranzukommen war für Hanni leider sehr schwierig. Doch dafür die Pflege herbeizurufen, wollte sie nicht. Sie hätte bestimmt wieder einen Kommentar gehört, wie ungesund das sei. Als ob dies noch eine Rolle spielen würde. Im Gegenteil, sie hätte sich nur zu gerne mit Schokolade umgebracht.
Hanni überlegte, wie sie am einfachsten an die Schokolade gelangte. Daraufhin richtete sie das Kopfteil des Bettes hoch und versuchte sie sich auf die linke Seite in Richtung Nachttisch zu drehen. Ein Schmerzstoss fuhr dabei durch ihren lädierten Körper. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Ein Pfleger oder eine Pflegerin wäre dann herbeigeeilt. Aber sie wollte es alleine schaffen. Dieses eine Mal. Wieder etwas selber erreichen, auch wenn es nur ein Stück Schokolade war. Darum biss sie sich auf die Lippen. Das tat auch weh, lenkte aber vom Rest ab. Unter grösster Anstrengung gelang es ihr, sich auf die linke Schulter zu legen. Mit der rechten Hand zog sie anschliessend an der Schublade, ein, zwei, dreimal… Stück für Stück öffnete sich diese. Ihr Arm ermüdete aber dabei stark. Sie musste eine Pause einlegen. Geduldig wartete sie, bis sie wieder genug Kraft verspürte. Irgendwann konnte sie ihre Hand in die Schublade reinstecken. Mist! dachte sie wütend, als sie bemerkte, dass die Schokolade in der hintersten Ecke lag. Dort kam sie nicht ran. Bitter enttäuscht zog sie nach mehreren vergeblichen Versuchen die Hand zurück. Unerreichbar war ein Stück Schokolade geworden. Wasser sammelte sich in den Augenwinkeln von Hanni. Sie war traurig.
Mit dem Gefühl versagt zu haben, drückte Hanni kurze Zeit später auf die Klingel. Die Krankenschwester kam. Hanni wusste, dass man Pflegefachleute gegenwärtig nicht mehr so nannte, aber es war ihr egal. Sie bekam von ihr die Schokolade kommentarlos überreicht. Ihre knochigen und steifen Finger umklammerten sie. Auspacken wolle sie sie selber, sagte Hanni und die Pflegerin verschwand. Beim Anblick ihrer Hände erinnerte sich Hanni daran, wie grazil und gepflegt sie früher immer waren. Alle zwei Woche ist sie bei der Maniküre gewesen. Immer mit Nagellack, rot, rosarot oder weiss. Ringe haben ihre Finger verziert. Alles vorbei. Hier im Pflegeheim kümmerte sich niemand darum, es interessierte niemanden. Die tägliche Körperpflege war das höchste. Doch dabei fühlte sie sich wie ein Tier. Es war für sie so erniedrigend, obwohl man versuchte, es möglichst mit Feingefühl durchzuführen.
Schokolade war ein Seelentröster, weshalb sie sich wieder ihr zuwendete. Unter grösster Anstrengung gelang es ihr, sie zu öffnen und ein Stück abzubrechen. Sie führte es dann mit zittrigen Händen zum Mund und legte es sachte hinein. Der Geschmack der dunklen, bitteren und doch süssen Schokolade breitete sich aus. Es weckte Hannis Lebensgeister, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Dass Süssigkeiten eine Droge sein sollten, wie neuste Studien sagten, dem stimmte sie zu. Sie brach sich ein

In der Schweiz gibt es das ß nicht, nur ss oder s.

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