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ihrem Pflegebett umgeben von prachtvollen alten Bäumen. Hanni konnte ihr Glück kaum fassen und weinte vor Rührung.
Tag 9
Hanni fragte sich, wie viele Tag sie noch leben würde. Sie brauchte inzwischen regelmässig höhere Dosen Schmerzmittel, was für sie ein klares Anzeichen für ihr Lebensende war. Der Arzt wollte keine Prognosen machte, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Sondern er lobte sie, dass sie ihr Schicksal akzeptiert habe, und lenkte damit ab. Es ist sowieso irrelevant, dachte Hanni, kurz vor dem Tod verschieben sich Prioritäten. Bedeutungsvoll war der gestrige Tag gewesen. Im Grunde musste sie darüber lachen, was früher alles wichtig gewesen war. Eine schlechtsitzende Frisur war ein Drama. Eine Lüge eine Katastrophe. Schmutzige Fingernägel ein Desaster. Eine schlechte Schulnote der Weltuntergang. Natürlich hatte Hanni auch schwierigere Phasen durchlebt und tiefgründigere Erlebnisse gehabt. Sie war aber immer sehr begabt gewesen und geschickt mit Schwierigkeiten umgegangen, dass es letztendlich nichts gab, als sich über Nichtigkeiten aufzuregen. Sie konnte auf ein gutes und erfolgreiches Leben zurückschauen. Nur der jetzige Zustand gefiel ihr nicht. Entweder wäre sie gerne friedlich und gesund in ihrem Bett zu Hause gestorben oder als Heldin im Dienste anderer. Dieser sicht-, spürbare und andauernde körperliche Zerfall war einfach belastend. Und entwürdigend, fügte Hanni in Gedanken hinzu.
Sterbehilfe oder Suizid hatte Hanni in Erwägung gezogen, nachdem die Therapien erfolglos geblieben waren. Kurzen Prozess machen. Sie entschied sich aber dagegen. Klar begründen konnte sie es nicht, oder doch? Die Stunden gestern unter den Bäumen war die beste Erklärung. Sie war sich bewusst, dass dennoch die schweren Tage in der Anzahl bei Weitem überwogen. Hanni hatte schon immer ein Gespür für kleine Glücksmomente gehabt. Ein sonniger Tag. Ein Blumenstrauss. Eine Umarmung. Ein Gespräch. Ein gutes Essen. Hanni hätte dafür tausend Beispiele. Das hatte sie einzigartig gemacht.
Tag 8
Musik drang an Hannis Ohren. Sie kam vom Nachbarzimmer. Hanni lauschte. Das Requiem von Mozart, stellte sie mit Verärgerung fest. Musste man wirklich daran erinnert werden, dass man auf der Todesliste stand? Sie hatte bereits alles für ihre Beerdigung vorbereitet, respektiv organisieren lassen. Sie wünschte anschliessend eine Kremierung. Das Feuer war reinigend, würdevoller – sich in Luft auflösen. Im Gegensatz zu den Würmern, die sich an ihren Leib zu schaffen machen würden. An der Gedenkfeier werden wenige Leute anwesend sein, die wichtigsten lebten nicht mehr und in den letzten Jahren war sie gerne alleine gewesen. Jetzt in der letzten Krankheitsphase litt sie aber stark unter der Einsamkeit. Stunden alleine mit sich und seinen Gedanken im Zimmer. Einzelzimmer. Privatversichert. Natürlich hob man sie ab und zu in einen Rollstuhl und stellte sie neben den anderen Todkranken. Wer nicht geistig verwirrt war, war frustriert und deprimiert. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, weshalb sie ihr Zimmer doch noch vorzog. Sie hoffte, dass die Pflegerin, die sie überrascht hatte, wieder bald Dienst hatte. Gerne würde sie mit ihr plaudern, obwohl sie sich nicht einmal hat den Namen merken können.
Das Requiem war zu Ende. Hanni wartete darauf, was als nächstes kommen würde. Als lange nichts kam, fragte sie sich, ob der Zuhörer oder die Zuhörerin auch gerade gestorben sei. Todesnachrichten gab es hier auf der Palliativstation nämlich täglich. Obwohl ein Ende von den meisten sehnsüchtig erwartet wurde, wurden sie doch mit gemischten Gefühlen aufgenommen, vor allem die Angst liess sich nicht verleugnen. Die Angst davor, alles loslassen zu müssen, alles Vertraute, den Körper, den man dennoch mochte, das eigene Bewusstsein und letztendlich vor dem Ungewissen, ob es der endgültige Schluss ist oder auf andere Art weitergeht. Das spürte auch Hanni.
Tag 7
Hanni war wütend und verzweifelt. Heute gelang es ihr nicht, sich auf das restliche Schöne in ihrem Leben zu konzentrieren. Nicht einmal die Nachricht, dass heute die nette Pflegerin arbeiten und diese sich extra Zeit für sie nehmen würde, erheiterte sie. Die Situation war einfach Scheisse! Kraftausdrücke halfen im Umgang mit Frustrationen, aber etwas verändern taten sie nicht. Die körperliche Schwäche, die sie ans Bett fesselte, blieb und zermürbte sie, obwohl die Schmerzen durch die Analgetika einigermassen erträglich waren. Gefangen in einem Körper, der nichts mehr taugte. Angewiesen sein auf andere Menschen für jeden Furz. Es war hoffnungslos. Sie kam sich wirklich, vor wie ein Insekt, das auf den Rücken lag und um sich schlug, bevor es krepierte.
Das Klopfen an der Türe holte Hanni aus ihren schwarzen Gedanken. Die Pflegerin Gabriela, wie Hanni inzwischen wusste, trat ein und begrüsste sie mit den Worten ,,Guten Morgen, Hannelore’’. ,,So hat mich nie jemand genannt’’, entfuhr es Hanni grob. ,,Also gut, Hanni.’’ kam es sanft und mit einem Lächeln zurück. Aggressiv zu sein, wenn man eine Engelsstimme hört, funktioniert einfach nicht. Hanni beruhigte sich augenblicklich und begann dann leise zu weinen. Gabriela setzte sich ans Bett und nahm Hanni für eine Weile in den Arm. Die Anspannung liess nach. Hanni fühlte sich geborgen.
,,Ich weiss, dass Sie den Arzt nach der restlichen Lebensdauer gefragt haben und keine Antwort erhalten haben, aber offen gesagt, wir gehen von ein paar Tagen aus. Und ich bin hier, um darüber mit Ihnen zu reden. Seit ich nämlich Ihre Freude gesehen habe, als sie zwischen den Bäumen lagen – ich kann es kaum beschreiben, als wären sie ein Engel oder eben die Gnade Gottes, wie ihr Name ausdrückt – möchte ich an Ihrer Freude weiter teilhaben und meinen Beitrag hinzufügen, damit sie für weitere Stunden wirklich werden kann.’’ Hanni war sprachlos. Plötzlich war sie nicht mehr die Kranke und Hilfsbedürftige, sondern im Kern irgendwie die Gesündeste, sogar ein Vorbild.
Hanni sollte dafür eine Wunschliste anfertigen.
Tag 6
Hanni hatte die halbe Nacht an eine Wunschliste herumstudiert. Das Ergebnis war ernüchternd. Hanni war nämlich zum Schluss gelangt, dass die alte Weisheit, dass das Glück sich nicht erzwingen lässt, sondern oft unverhofft kommt, stimmt. Hie und da eine geeignete Situation schaffen, das war möglich, dachte Hanni weiter, mehr nicht. Gerne möchte sie mit Gabriela nochmals in den Park gehen und ein letztes Mal ein Lachsbrötchen essen. Das teilte sie auch Gabriela mit, als diese morgens erwartungsvoll ins Zimmer trat. Deren Enttäuschung war ihr anzumerken, trotzdem gingen sie gemeinsam in den Park.
Draussen angelangt, veränderte sich Hanni. Ihr Gesicht begann zu leuchten und die Atmung wurde ruhiger und tiefer. Hanni betrachte eindringlich und liebevoll die Eichen und die Buchen. Für Gabriela weckte es gar den Eindruck, als spräche Hanni zu ihnen.
Plötzlich begann Hanni zu erzählen, ein Märchen mit dem Namen ,,der Silberblätterwald’’. Es handelte sich um eine junge Frau auf der Suche nach sich selber. Diese hatte sich in den Wald mit den silbrigen Blättern zurückgezogen, nachdem sie von den Menschen vielfach auf verschiedenste Art und Weise verletzt und enttäuscht worden war. Dort fand sie etwas Ruhe und einen Platz, wo sie ungestört, weinen konnte. Dabei flossen im Verlauf der Zeit so viele Tränen, dass sich das Augenwasser auf den Waldboden sammelte bis sich ein Bach daraus bildete. Die Frau fand in seinem spiegelnden Anblick Trost. Daraufhin folgte sie seinem Lauf bis sie zu einem goldenen Baum gelangte. Die Pracht und die Grösse dieses Baumes waren so überwältigend, dass es schlagartig alle ihre Wunden heilte. Die Botschaft dahinter war deutlich. Die Frau verstand immer noch, auch als alles schlagartig vor ihren Augen verschwand und sie in ihrem grauen Alltag zurückgekehrt war. Diese Stärke hatte sie nie wieder verloren.
Gabriela hatte unentwegt zugehört, war ganz in den Bann gezogen worden und fühlte sich zutiefst angesprochen. War das nicht ihre Geschichte? War sie nicht unzählige Male gekränkt worden? Oder hatte Hanni von sich erzählt? Hatte sie daraus ihr grosses Selbstbewusstsein gewonnen? Vielleicht war es aber auch die Geschichte von allen.
Tag 5
Als Hanni erwachte, war bereits Mittagszeit. Zwischendurch war sie zwar mehrfach von den Umgebungsgeräuschen geweckt geworden, aber irgendwie hatte Hanni die Kraft und auch der Willen gefehlt, um aus dem Dämmerzustand rauszukommen. Deshalb schlief sie jeweils wieder ein − in einen noch tieferen Schlaf.
Hanni spürte, dass sie in den Morgenstunden viel geträumt hatte. Den Inhalt konnte sie nicht klar benennen, aber sie hatte keine Zweifel daran, dass sich ihr Unbewusstes mit dem Prozess des Sterbens auseinandergesetzt und die unausweichliche Tatsache akzeptiert hatte. Die Ungewissheit, welche Hanni lange verspürt hatte, war nämlich weg, ebenfalls ihre Angst vor dem Tod. Hanni fühlte sich im Reinen. Sie war sich bereit.
Im Verlauf des Nachmittags nickte Hanni noch mehrmals ein. Von ihrer Seite gab es keine Anstrengungen und Bemühungen mehr. Sie war ganz entspannt. Sie überliess ihren Köper dem Bett oder dem Kreislauf des Lebens. Durst und Hunger verspürte sie keinen mehr. Gabriela kam einmal vorbei, setzte sich wortlos ans Bett und hielt Hannis Hand. Es gab nichts mehr zu sagen.
Tag 4
Hanni erwachte bereits im Morgengrauen und war sofort munter. Pläne für den kommenden Tag kamen ihr in den Sinn und sie klingelte deshalb nach dem Pflegepersonal. Sie wünsche, dass man ihr vom Kiosk unten Blumen aufs Zimmer bringe. Und sie fragte, ob es möglich sei, in die Bäckerei zu gehen, um Lachsbrötchen zu holen. Diese wolle sie dann unbedingt im Park unten geniessen. Was Hanni mit einer beträchtlichen Vehemenz einforderte, wurde mit einem Lächeln und von Herzen entgegengenommen. Man kannte leider die Phase kurz vor dem Tod, wo die Patienten zum letzten Mal aufblühen.
Tag 3
Nach dem gestrigen erlebnisreichen Tag war Hanni ausserordentlich müde. Sie hatte sogar mit einer guten Freundin im Ausland telefoniert und sich fröhlich unterhalten. Zum Schluss hatten sie sich Lebewohl gesagt. Jetzt aber fühlte sie sich schlapp, erschöpft, schwer und hundemüde – alles auf einmal. Sie wollte weder gewaschen noch umgebettet werden. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben.
Tag 2
Den Tag verbrachte Hanni halb bewusstlos, wie sie es gegenüber einer Mitarbeiterin in einem helleren Moment formulierte. Ihre restliche Aufmerksamkeit richtete sich unwillkürlich auf ihre Atmung, die viel langsamer und flacher geworden war. E i n - und A u s a t m e n. Atmen ist leben und leben ist atmen, dachte Hanni.
Tag 1
Gabriela hatte Dienst und als sie am Morgen in der Frühe in Hannis Zimmer trat, atmete diese nicht mehr.
In der Schweiz gibt es das ß nicht, nur ss oder s.