In den letzten Wochen ist die Diskussion über ein Verbot der Vollverschleierung von muslimischen Frauen stark ins öffentliche Interesse gerückt. Dies sicherlich nicht zuletzt durch die Debatte um den Umgang mit Geflüchteten und dem Islam. Dieser Essay soll ein Beitrag zu dieser Debatte sein.
Zu Beginn möchte ich klarstellen, dass ich gegen ein generelles Vollverschleierungsverbot bin. Allerdings ist das Thema zu vielschichtig um es mit einem einfachen Verweis auf die Religionsfreiheit abzuschließen, zumal ich nicht glaube, dass die Religionsfreiheit hier der passende Adressat ist. Betrachten wir stattdessen die Argumente, die in der Regel für ein Verbot der Vollverschleierung vorgebracht werden. Diese sind: Das Diskriminierungsargument, das Integrationsargument und das Gesellschaftsargument.
Beginnen wir mit dem in meinen Augen schwächsten Argument: dem Gesellschaftsargument. In Ermangelung eines besseren Schlagwortes nenne ich so jenes Argument, dass besagt, die Gesellschaft habe einen Anspruch darauf, nicht mit vollverschleierten Menschen konfrontiert zu werden. Oft wird behauptet, das verdecken des Gesichts im Alltag sei sozial unverträglich und müsse daher verboten werden. Zunächst denke ich, dass ein Argument, welches mit der sozialen Verträglichkeit bestimmter Handlungen arbeitet, klar zeigen muss, dass besagte Handlung tatsächlich sozial unverträglich ist. Sätze wie „Ich finde es sehr unangenehm, wenn X“ reichen bei weitem nicht aus. Was das Thema der Vollverschleierung angeht, so ist mir keine Studie bekannt, aus der hervorginge, dass die Existenz von vollverschleierten Frauen zu sozialem Unfrieden geführt hätte. Doch selbst wenn ein solcher Unfriede nachweisbar wäre, so müsste er schon überaus unzumutbar sein, wenn er ein Verbot rechtfertigen sollte. Wer ein Beispiel für etwas sucht, dass sozialen Unfrieden stiftet, der senke sein Augenmerk auf politische Themen. Gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte fühlen sich viele Menschen von der einen oder der anderen Position abgestoßen und befremdet. Dennoch wäre es im höchsten Maße falsch, die Äußerung einer Meinung im Zusammenhang mit diesem Thema zu verbieten. Wenn aber die Diskussion eines Themas, dass derart hohe Wellen schlägt, mit Verweis auf den gestörten sozialen Frieden nicht verboten werden kann, dann kann dieses Argument auch nicht bei einem Thema wie der Vollverschleierung greifen.
Als nächstes betrachten wir das Integrationsargument, welches besagt, die Vollverschleierung sei ein Integrationshindernis. Auch um diese Frage abschließend zu klären, müsste man vermutlich Studien heranziehen, die bei der geringen Anzahl an vollverschleierten Frauen in Deutschland wohl auf ganz Europa ausgeweitet werden müssten. Meine Vermutung wäre allerdings, dass die Vollverschleierung in der Tat ein Hindernis bei der Integration darstellen kann. Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der Vollverschleierung. Es gibt viele Dinge, die die Integration erschweren können, sowohl auf Seiten der „Mehrheitsgesellschaft“ als auch auf Seiten der zu Integrierenden. Die höchste aller Hürden ist in diesem Zusammenhang wohl das Nichterlernen der deutschen Sprache. Unabhängig davon, wie sinnvoll verpflichtende Deutschkurse für Flüchtlinge sind, so ist es doch unbestreitbar, dass es viele Menschen in diesem Land gibt, die die Landessprache nicht beherrschen. Ich denke, selbst jemand, der diesen Umstand für ein Problem hält, würde einen Vorschlag absurd finden, jede Person, die die deutsche Sprache im Alltag nicht anwendet, gesetzlich dazu zu verpflichten und eine Zuwiderhandlung mit polizeilichen Maßnahmen zu sanktionieren. Genauso wenig, wie eine erwachsene, mündige Person gesetzlich dazu gezwungen werden kann, sich im Alltag der deutschen Sprache zu bedienen, kann ebenjene Person dazu gezwungen werden, um der Integration willen auf einen bestimmten Kleidungsstil zu verzichten.
Als letztes nun das Diskriminierungsargument. Damit meine ich das Argument, demnach die Vollverschleierung Frauen diskriminiere und unterdrücke. Dem kann ich nur absolut zustimmen. Wann immer eine Frau, allein aufgrund ihres Geschlechts, gezwungen oder angehalten wird, sich vollständig zu bedecken, kann nur von Diskriminierung und Unterdrückung gesprochen werden. Allerdings kann der Staat hier nicht durch ein Verbot tätig werden. Wenn sich eine Frau freiwillig in eine solche Unterdrückungssituation begibt, ist es nicht Sache des Staates, ihr dies zu versagen. Natürlich ist es im Sinne des Staates, dass seine Bürger all die von ihm garantierten Freiheiten ungehindert in Anspruch nehmen können, doch kann er niemanden dazu verpflichten, dies zu tun. Nehmen wir das Beispiel des Frauenwahlrechts. Es hat in allen europäischen Ländern, in denen es Bewegungen zur Einführung des Frauenwahlrechts gab, auch Bewegungen von Frauen gegeben, die sich gegen ein solches Recht ausgesprochen haben. In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt, wir können also getrost davon ausgehen, dass es dort noch immer Frauen gibt, die das Frauenwahlrecht ablehnen und aus diesem Prinzip heraus auch an keiner Wahl teilnehmen. Diese Frauen aus emanzipatorischen Gründen an die Wahlurne zu zwingen, wäre genauso falsch, wie einer vollverschleierten Frau den Gesichtsschleier zu verbieten.
Ich habe nun also dargelegt, warum die gängigen Argumente gegen eine Vollverschleierung meiner Meinung nach nicht greifen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich der Meinung bin, Vollverschleierung müsse zu jeder Zeit und an allen Orten geduldet werden. Überall dort, wo ein Vermummungsverbot gerechtfertigt ist, beispielsweise beim Betreten einer Bank, bei Prüfungen oder vor Gericht, muss dies selbstverständlich auch für muslimische Frauen gelten. Es darf keine Sonderregelungen für Religionen geben. Im Alltag allerdings, darf eine Vollverschleierung jedoch so wenig verboten werden, wie eine Skimaske oder ein Hasenkostüm.