Ruth - Page 12

Bild von Lou Andreas-Salomé
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in die Schule –«

»Nein. Ich weiß. Und –?«

»Und da mußt ich hierher.«

Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!«

Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Noch nie meinte er eine so tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben wie diesem Kinde gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen, wie auf etwas, was ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten ließ.

»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er.

»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!«

Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagt: »Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen.

Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen Plan.

»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend, »wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei mir nehmen?«

Sie nickte eifrig.

»Gut. Wir würden also mit einander arbeiten,« – und in leichtem Tone setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen? In dem Aufsatz da, – der hat uns ja zueinander geführt, nicht wahr? – nun, da steht fast eben soviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen so ungeordneten kleinen Kopf mit so krausen, wilden, unfertigen Einfällen und Vorstellungen hab' ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du das wohl?«

Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du wirst es schon ordnen und entwirren!«

Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein scheuer mattgeflogener kleiner Vogel, der sich hilflos verflattert hat und sich mit einemmal in einem weichen Neste findet.

Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und durch den seinen Nebel hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg, fielen ihre Strahlen beinahe rot wie flüssiger Purpur. Die bei den noch vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus.

Ein herber frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der Nachtigallen.

Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung.

»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann war, den du auf der Straße grüßtest?«

Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen verräterisch zwei Schelmengrübchen.

»Ich – – – ach der! Den kenn' ich ja gar nicht.«

»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie kam denn das?«

»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer und über legte, »– es ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich hab' ihn mir ausgesucht, aber er weiß ja nichts davon.«

»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehn,« sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich deutlicher.–Nun?«

»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es war eine bloße Geschichte, – die wir unter einander spielten – im Schulhof in der Frühstückspause, – und da mußte jemand vorkommen, der ungefähr so aussah. Und da – hab' ich mir diesen ausgesucht, weil es schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.«

»Aber was sollt' er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du ihn zuerst grüßtest?«

»Das mußt' ich ja tun! Wie sollt' er sonst wissen, was er zu tun hatte? Ob er grüßen durfte?«

»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn das nicht überlegt?«

Sie sah erstaunt auf.

»Das durft' er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt. Er mußte edel und unglücklich sein.«

Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt auf sie.

»In eurem kindischen Spiel – ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst du das nicht auseinanderhalten? Das mußt du können, Ruth! Und nun sage mir, was du getan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle gefallen wäre?«

Sie dachte nach.

»Dann hätt' ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.«

»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zugemacht hättest?«

»Ich? Nein! aber er doch. Denn dann hätt' ich ja einen andern suchen müssen.«

»Einen andern?!«

Sie nickte.

»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig.

»Und das hättest du wirklich getan? Besinn dich mal! Wär' es dir wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist dein Benehmen war?«

Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf. Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht begreifen, was sie die er fremde Mann außerhalb seiner Rolle kümmern sollte?

»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir !« rief sie mit kläglichem Gesicht.

Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor Ruth stehn, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte.

»Sage mir, gibt es mehr solcher fremden Menschen, die du auf der Straße grüßest?«

»Ja, Alle Straßen sind voll davon.«

»– Männer?« fragte er zögernd.

»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen, Kinder, alte Leute.«

»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«

»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre Geschichten, – viel, viel schönere, – wunderschöne,« fügte sie lebhaft hinzu, – »und die mit Kindern sind mir die liebsten.«

»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie finden sie nicht schön!‹ sagte Ruth traurig.

Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und neigte sich ein wenig vor.

»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst, »aber alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen.

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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