Ruth - Page 15

Bild von Lou Andreas-Salomé
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ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch auf ihn überzugehn, als ahne oder begreife er plötzlich ihre zornige Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen, fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen als in seinem eignen, stillen Zimmer, – dort, wo sie zu ihm gekommen war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie sich ersehnt und erträumt hatte.

Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante hinausging, blieb Ruth regungslos stehn, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im Flur hörte sie die Haustür gehn, dann einen raschen Schritt auf der steinernen Treppe. Darauf wurd' es ganz still.

Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten.

Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, worauf Erik vorher gesessen hatte. Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf darauf.

Und dann fing sie an, bitterlich zu weinen.

*

Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch nicht. Er war doch kein Hellseher.

»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis plötzlich ärgerlich.

»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick.

»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das tut ja jeder Mensch. Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?«

»Jetzt eben dacht' ich an Großpapa,« sagte Ruth.

Darüber freute sich der Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte seinen Vater unendlich lieb gehabt.

»Du warst erst fünf Jahr alt, als deine Eltern starben und du hierher kamst, erinnerst du dich denn seiner noch?«

Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein schneeweißer großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen – Kinderaugen eigentlich.

»Einmal hob er mich aus dem Bett, – er sah so schön aus, mit Bändern und Sternen, und blitzte über und über, – und da kam seine brennende Zigarette an meine bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm Tränen in die Augen, – aber wirkliche, große Tränen, so daß die Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und küßte mich – auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den ganzen Körper. – So war Großpapa. – Jetzt würd' ich mir gern den Arm abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte sie wild hinzu.

Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie vergessen können.

»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte darüber nach, was er ihr schenken könnte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da hab' ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich hab' es noch. – Und so sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.«

Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider aus Seidenpapier, – das waren doch sicherlich normale und harmlose Phantasien eines Kinderkopfes. –

Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtstunde fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehm' ich dich in Schutz!«

*

Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht mehr so lange, einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging gradeaus, – nicht hinten die Terrasse hinauf und ins Haus, sondern weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt hatte.

Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen.

Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er die Jacke abgeworfen.

»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach seiner Jacke, die auf dem Rasen lag.

»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den dicken Stamm einer alten Ulme. Darauf wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige Augenblicke.

»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken, und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Ästen empor, die über ihr rauschten.

Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts.

»Wo ist das Schöne?« fragte er verwundert.

»Diese drolligen kleinen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den Knospen, – und alle mit einander an den Zweigspitzen, – als getrauten sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den klebrigen braunen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut? Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie wieder wegfliegen.«

»Die fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder seinen vermeintlichen Raupen zu.

»Nein. Nur diese hier tun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten.

»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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