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suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem Leiden befreien, ihm weh tun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben, und da nahm ich ihn mir!«
Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und drückte sie zwecklos in den Händen zusammen.
»Ich will nach Hause gehn!« wiederholte sie und zitterte am ganzen Leibe.
»Wie du willst.«
»Also adieu,« sagte sie und ging langsam, wie gelähmt, der Tür zu.
»Adieu, mein Kind.«
Sie hatte Mühe, den Türgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Tür offen war und sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Tür mit brennen den Augen ins Zimmer zurück.
Erik saß auf dem von ihr verlassnen Ledersessel am Fenster. Er hatte den rechten Arm auf die Lehne gestützt und die Hand über die Augen gelegt.
Und plötzlich über fiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, – um sie leide, die ihn verletzt hatte.
Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dies Gefühl war seltsam und berauschend: es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein Glück anfühlte.
Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht, sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen.
Wer Ruth über den Flur gehn sah, der konnte meinen, sie sei trunken.
*
Um neun Uhr, – Gonne hatte bereits den Tee und die gerösteten Brotschnittchen auf den Tisch gebracht, – kam Erik endlich ins Wohnzimmer herüber.
»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in sein Gesicht. »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte doch, daß sie mit uns bleiben sollte?«
»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht weiter.
Aber Jonas tat es statt ihrer.
»Ruth hab' ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald wieder her, Papa?« »Bald!« sagte dieser.
»Denk dir nur, sie wollte mir's nicht sagen,« plauderte Jonas weiter, »ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so, – sie sah aus, als ob sie grade was geschenkt bekommen hätte.«
»Was geschenkt?« wiederholte Erik und setzte das Teeglas, das er zum Munde führen wollte, hart auf den Tisch nieder.
»Ja, ganz gewiß, grade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht, und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.«
»Ihr ist doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt.
»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser hab' ich ihr vom Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. – Ich habe ihr aber noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu.
»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnt' es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.«
»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas geschenkt bekommen hätte.«
Er sprach in leichtem Ton, doch beschäftigte ihn, was Jonas erzählt hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte, und selbst daß sie weglief, begriff er ganz gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er nicht. War es denn möglich, daß sie gern – mit Freude fortging? – – Und daß sie nicht wiederkam?
*
Während sie noch beim Tee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter herauf. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehn sah. Ein Sturmwind fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein, den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand unvermittelt. Und gleich darauf prasselte unter grellzuckenden Blitzen und gewaltigen Donnerschlägen ein heftiger Platzregen nieder.
»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! Bitte, Jonas, iß nicht mehr! Ach Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen schloß.
Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehn und schaute in den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück. Die Gewitterangst war etwas, was sie überkommen hatte, seitdem sie hilflos daliegen mußte. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik würd' es auch wohl nicht an ihr geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld damit.
»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!«
»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?«
Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände.
Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag. Auf Augenblicke sah der Garten aus wie von bengalischen Flammen beleuchtet, und im bläulichen Schein konnte man die vom Sturm losgerissnen Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinanderfliegen sehen.
Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal zusammen.
»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, eh es losging?« fragte sie.
»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,« beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei diesem Unwetter nicht zu holen braucht.«
Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig nachließen und der grobkörnige Regen mit schwächerm Ton auf das Dach niedertrommelte.
»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte.
Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und blickte, über die Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus. Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen.
»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so, wie Ruth es gesagt hat! Wie leid wird es ihr tun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon wieder blau, Papa.«
»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel. »Solche Aufregung und Verwirrung draußen ist schrecklich.