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gar nicht gesprochen, nur von Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer, Ruth. Denn es ist schwer, mit so Vielen teilen zu müssen, die Alle von Demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in Anspruch nehmen, – ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.«
»Das?« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möcht ich lieber nicht. Das hatt' ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen stehn und alles können, als ob man ein Hexenmeister wäre, – das muß herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf einmal wäre – und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.«
Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie sich dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu wollen, einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte.
Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich ausgemalt hatte. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Rings herum Wasser, so daß da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können, nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen drauf. Ich weiß nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, – und dann etwas Gewaltiges tun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.«
Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das sei es vielleicht so ungefähr gewesen, war ihr Mann einst gewünscht und erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung war.
»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Ärzte, die Reisen, die Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus. Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.«
Ruth blickte aus weit geöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig sagen konnte.
»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt, wider Willen, hervor.
»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen. Sogar in das Schwerste: still zu liegen und nicht mehr mit eignen Händen für das Behagen derer sorgen zu dürfen, die man liebt. Denn das ist das Allerschwerste, Ruth.«
Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte es nur; den andern nicht mehr dienen zu können.
Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen Fall den andern noch dienen könne. Was sie so entsetzte, war die Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß ein andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, seiner Sache zu dienen.
Es verwirrte sie ganz, daß ihr die sanfte kranke Frau gar nicht leid tat. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid tun, wenn sie nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum Weinen.
Klare-Bel lag grade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie sie es hätte behalten mögen, – so klar und blau und ruhig, wieder.
»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz verstummt war, »einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb hast. Dazu gesund zu sein, und schön und gut und klug oben drein! Gleichviel ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, – daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere. Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als der zu sein, dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.«
»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätt' es ja Gott schlechter als die Menschen!«
Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, – einen tadelnden Blick. – Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth. Klare-Bel fühlte sich nur sicher, solange Ruth zuhörte. Sie hörte so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine Spezialität.
Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in den Garten getreten, und zwischen den Bäumen sah man ihn, den Schulranzen auf dem Rücken, im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges Butterbrot, in das er hineinbiß.
Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und sagte: »Du – Sie – haben – « stockte und wurde rot.
»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn.
»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr auf dem Rande des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen. Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie alt bist du denn?«
»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth.
»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich sein Gesicht auf, – »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,« fügte er hinzu und brach sein Brot, im lebhaften Drang, es mit ihr zu teilen, in zwei Hälften.
»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer.
»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er. »Aber das war auch ein rechtes Glück,