Ruth - Page 23

Bild von Lou Andreas-Salomé
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weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen. Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben können.«

»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wär' ich auch fortgegangen,« bemerkte Ruth tiefsinnig.

Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte er schnell: »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten durch fließt ein kleiner Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern, der Zaun ist ganz niedrig.«

»Nein,« erwiderte sie, »geh nur in das Gehölz. Ich muß jetzt hier bleiben.«

»Was willst du denn hier tun?«

»Ich muß nachdenken.«

»Nachdenken?«

Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich dran beteiligen könnte.

Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knien sitzen, die Arme auf die Knie und das runde Kinn auf die geballten Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor sich hin auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand, und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie wußte ganz genau, wo sie stehn geblieben war, als Jonas kam und sie aufhören mußte.

Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig ihr Lied.

Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen, halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, – in einem warmen Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte Ruth nicht.

Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die sie kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher, – fast als ob sie bloße Leiber wären, in denen so gut wie nichts drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, – die sahen viel schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden und so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von Gedanken.

Ruth durch wanderte die ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage, fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten drin den einzigen, wenn er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stünde er ihr ganz allein gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, – der erste Mensch am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und ein Wunder. Mit Staunen stand sie vor ihm still, als müsse sie fragen: »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier herrschen?« Er beschäftigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken verlor und ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas Besondres, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei, wenn sie ihn da dulden sollte.

Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz, Licht auf Licht auf ihn zu häufen.

Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald.

Sein erster Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber der leidende Ausdruck vom Morgen war völlig aus ihren Kinderzügen verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik wohlgefiel, lag in ihren Augen.

Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel sie auf sich zukommen.

»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen, meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen Augenblick länger daliegen.«

Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und nahm die klein gewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein Kind an der Brust bettet.

»Du allzu leichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus.

Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen.

Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu tun, was Erik tat. Das Mitleid, das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in nichts verflogen, – und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehn. Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß sich die kranke Frau nicht als Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang.

Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es zum ersten Male geschah, und sie erst den Abend vorher hatte weglaufen wollen. Sie fühlte sich als ein längst dorthin gehöriger Hausgenosse, – zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen.

»Von deinem Onkel bring ich dir was mit,« sagte Erik, der sie bei Tisch neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier zu bleiben, wie du willst. Ich denke, wir antworten ihm vorläufig: den ganzen Sommer. Was meinst du?«

Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen Bissen gegessen haben.

Als sie beim Kaffee waren und die Kinder hinausliefen, blickte Erik seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?«

»O Erik! mir gefällt sie gut für dich. Denn sie hat etwas so Unverständliches, find ich. Das ist gerade was für

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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