Ruth - Page 21

Bild von Lou Andreas-Salomé
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herzlich zu Erik: »Wissen Sie, – ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die Ruth bei Ihnen ist.«

»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik einfach.

»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn heran trat, »ich glaube, grade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: nach Hause.«

»Aber ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.«

»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich, »nein, gut behandelt, natürlich, wie sollt' es auch anders sein? Aber wozu sollen wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es verstehn. Schon neulich fühlte ich's, heute weiß ich's ganz deutlich. Ich freu' mich ja auch an ihr, – ja, das tu' ich, weiß Gott, – aber im übrigen: das Kind hat nichts davon. Das ist es nur, was ich meine.«

»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege sie.«

Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebten nie wieder gegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan, wofür er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren bei nahe Freunde geworden.

*

Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht hatte, schützte sie vor der Morgensonne.

Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die inmitten davon ruhte.

»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die Nacht krank dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß du nun zu mir kommen kannst.«

Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansah, wie rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen war. Und einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an, wie den kostbarsten Gegenstand dort im Hause.

»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?«

Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt.

»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit emporgezogenen Knien auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens, aus dessen geborstener Wasserurne über ihr sich ein langes, dünnes Schlinggewächs schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es am allerschönsten in der ganzen Welt!«

»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend, fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher gewohnt haben, – auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon einmal am Meere gewesen?«

»Ja, mehreremal,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wär' ich grade da gewesen, wo Sie gewohnt haben, – auf der kleinen Insel. Aber ich wußte damals nichts davon. Nein, ich wußt' es nicht.«

Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor, daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so ernsten und bewegten Gesicht.

»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck hinzu, »alles, ganz so, wie es war. War es wunderschön?«

Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten.

»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an.

»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier, trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.«

Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nach dem sie beschrieben hatte, wie dörflich-klein, und doch wie wunderbehaglich es gewesen sei trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen Fensterscheiben, die immer von der Salzluft beschlagen waren, – kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus und ein gingen. Viele Menschen waren das, – ein ganzes Volk schien es Ruth, – und immer scharte Klare-Bel Erzählung sie um den einen, den sie in den Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles tat, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen Lächeln grüßten.

Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie wahr zu nehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie ergänzte unbewußt das Bild bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben übermalte, die ihr Klare-Bel selbst auf die Palette rieb. Und um dieses ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und schäumen.

Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie idealisierte, was sie Ruth beschrieb.

Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten Wangen.

»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar, »ich möchte nichts andres tun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das möcht' ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!«

»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eignen Erzählung. Von sich selbst hatte sie bisher noch

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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