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Gewoge, wovon man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer drin nisten! Und unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei vorjährige Schwalbennester.
Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers bemerkte, fing er an zu lachen.
»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder, die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Tür stehn, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß. Meinst du nicht, Ruth?«
»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht fertig, und das ist das Schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich's haben will.«
»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster. »Als wir zuerst aus dem Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unserer Stadtwohnung auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte so ganz von vorn und nach eignem Ermessen anfangen.«
Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an.
»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer gewesen sein, – da von der kleinen Insel weg – und hierher, weg vom Meer und von all den vielen Leuten?«
Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten.
»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt's ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, – schlimme kleine Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.«
»Ach die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den Achseln, »die sind's nicht wert.«
»Auch du nicht?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an.
»Nein, auch ich nicht,« meinte sie treuherzig.
»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig, Ruth. Das ist nicht gut.«
»Warum ist nun auch das wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut.
»Weil es nicht aus dir selbst heraus kommt, Mädel. Nicht aus deiner Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die er sich verrenken muß. Das sollst du nicht tun.«
Sie erwiderte nichts drauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, was sie nicht anzubringen wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh aus. In den Augen – und überhaupt. Warum?«
»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst.
»Mich! aber all die andern?«
»Wen denn, Ruth?«
Nun hielt sie's nicht länger aus.
»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres tun zu dürfen, etwas viel, viel Größeres, – so groß wie ein Meer mit allen Schiffen drauf,« versuchte sie auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne es zu merken, erregt an seiner Uhrkette.
Er sah erstaunt auf sie nieder.
»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es klar sagen können. Nun?«
»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber – am Vormittag.«
»Mit meiner Frau?«
Ruth nickte.
»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.«
»So. Tut sie das? Aber was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und sein Blick war forschend und gespannt.
»Alles. Und da, – ja, da schien mir's so ganz entsetzlich, – so ganz unmöglich schien mir's, daß nichts draus geworden ist,« sagte sie leidenschaftlich, und ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben soll. Es kann ja nicht so bleiben.«
Sie sprach bei nahe zornig, und in ihren Augen standen große Tränen.
Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft hin über ihr loses weiches Haar, und als Ruth aufblicken wollte, da glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen. Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel, und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zumute. Er wußte, daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam, weder die leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des Bedauerten war seiner Frau möglich.
Noch nie, seit er verheiratet war, hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Tränen und härmte sich um diese Enttäuschungen, als wären es ihre eignen.
Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf tiefer, und ihre Hand glitt von seiner Uhrkette.
»Ich will's gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend.
Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen.
»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,« versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft, »niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen, – und nun gar Kümmernisse, mein Kind, – solche kindische und phantastische Kümmernisse.«
Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das Gesicht im Schatten.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?«
Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte sehen, daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag, und daß sie sich als Kind behandelt fühlte.
»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein großes, weites Feld zu bebauen, – ein Feld, wohl so groß wie das Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es noch wenige, – viel zu wenige. Aber es kam anders, als er sich's gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht mit arbeiten. Nur ganz fern, im äußersten Winkel, wies man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.«
Sie hatte längst die