Ruth - Page 29

Bild von Lou Andreas-Salomé
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wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete sich sozusagen die ganze Klasse als mit verlobt und an den Mann gebracht.

»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die besonders zärtlich an Ruth hing, »ach Ruth, ein solcher wirklicher Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denk dir nur, was man als Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie spricht von ihm und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren mit ihrem Kram.«

»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«

Gretchen schwieg etwas betroffen.

»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!« fiel eine andre ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht herrlich?«

»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif in ihrer Hand; »vielleicht ist es herrlich.« Dann gab sie ihn der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das Herrliche daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«

Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich zum ersten Male zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein besaß, als Braut, – was sie mit den andern nicht gemein haben konnte. »Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich mit Scham und Stolz. Und während sie den Ring wieder ansteckte und Ruth anblickte, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren: »Diese hier ist gewiß die nächste Braut.«

»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das Übergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte; »was hattest du immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin einzige, die noch dem ›Edeln, Unglücklichen‹ nachsteigt.«

»Ist der noch da?« fragte Ruth.

»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«

»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte sie, »es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis! Warum bist du auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«

Ruth hatte den Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in den verregneten Hof. Grade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein, dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.

»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«

»Wieso ein Notbehelf?«

»Würdest du uns keine mehr erzählen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr wolltet es ja so.«

»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«

»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«

»Oh!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse, »dahinter gibt es das Leben.«

In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den meisten selbst der »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden erschien. In den Gesichtern prägte sich's deutlich aus, daß sich ein neuer Hunger geltend machte.

»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.

Ruth lachte.

»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann geht man gradeaus, und nach rechts und nach links, ringsherum und nach allen Seiten. Bis man alt ist.«

»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend, »seht ihr denn nicht, daß sie euch foppt? So machte sie's immer mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil wir's ernstlich nehmen.«

»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.

»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch über die Mauer zu helfen?«

»Das könnt ihr ja tun.«

»Der hätte wohl grade Lust und Zeit dazu!«

»Zeit hat er gewiß,« versicherte Ruth, »und Lust hat er auch. Er hat alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«

Sie sahen sich mit unsichern und lächelnden Blicken untereinander an. Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.

Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu sein.

»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm ist? Hast du da auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen vorsichtig.

»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit dem Tage vorher noch nicht trocken geworden waren.

Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen verließen den Platz am Brunnen.

»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche Wjera, »das kostet nichts.«

»Warum?« entgegnete Ruth, »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was kosten.«

In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber blieb es unbeachtet, daß ihnen Ruth nicht folgte. Über der Spannung, die sie hervorgerufen hatte, war sie selbst vergessen worden. Als sich die Mädchen dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden, war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war ein Gelächter.

Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo ihn Ruth erwarten sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es hier noch zu tun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform zu entrinnen. Als sich dann Ruth immer noch nicht melden wollte, öffnete er etwas beunruhigt die Tür zum Wohnzimmer und schaute hinein.

Da lag sie und schlief.

Sie hatte ihre kleinen

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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