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sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine Überlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten und Schmeicheln zu bewegen! Denn hätten sie »Schlangenbändiger« gespielt, da wär er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm, ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.
Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.
»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er; »warst du's etwa?«
»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«
»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.
Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich an das niedrige Flurfenster, an dem der Regen herunterrieselte, und drückte ihr Gesicht platt gegen die Scheibe, so daß es sich satyrhaft verzog. Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme: sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth immer zum Lachen.
Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.
»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein Junge!«
Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte. Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie tun, es würde ihr gar nicht einfallen, – davon war er fest überzeugt.
Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offne Fenster des Wohnzimmers und fragte, ob er noch bis zum Abendtee einen Kameraden aufsuchen dürfe.
Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in van Lenneps Novellen las, blickte bei seinen Worten auf.
»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht nur noch an das Mädchen, Erik.«
»Strohfeuer!« versetzte dieser.
Er stand und schaute verträumt hin aus. Seine Gedanken weilten noch in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine willkommne Zerstreuung und freute sich darüber für ihn. Ihm war es mehr als das.
»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt. »Aber du meintest doch selbst, Jonas sei beim Lernen flüchtig und zerstreut geworden.«
»Das ist er wohl ein wenig. Aber was ihm dadurch vielleicht an Schulweisheit abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung, die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm keine Schule.«
»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er nun sein Herz so ganz an sie hängt –?«
»Dann laß ihm die Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an nichts Besseres hängen, Bel.«
Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren Händen. Sie faltete sie im Schoß.
»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.
*
Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam. Wie ausgestorben schien das Haus, weil man dort seinen Schritt und seine Stimme nicht hörte.
Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel. Nachts ließe er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.
Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst darauf folgendem ›unzertrennlichem‹ Beisammensein. Aber dafür war Ruth heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«
Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.
Ruth dachte immer fort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen hineinzuversetzen.
Als ihm Klare-Bel am Morgen beim Weggehn zurief: »Adieu, Erik, amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter allem, was er in gewohnter Weise sprach oder tat, fühlte Ruth es heraus, daß eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die amüsieren, – sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von der die Gegenwart verdunkelt wird.
Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl war auf die Terrasse geschoben worden, unten konnte sie nicht bleiben, weil Erik fehlte, um sie wieder hinaufzutragen. Ein warmer Sommerduft stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie ein großer grüner Farbenklecks.
Als auf der Terrasse der Abendtee getrunken wurde, fiel es Klare-Bel doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.
»Es ist fast, als könnte sie's gar nicht mehr ertragen, daß sich Erik mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie und fragte laut: »Aber Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du dort zusammen mit Erik?« Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie schüchtern an.
»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen Erstaunen Klare-Bels.
Diese zog sich bald nach dem Abendtee in ihr kleines Gemach zurück, um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig leidend. Vielleicht griff sie die neue Behandlung an, die Erik seit kurzem mit ihr vornahm und die eine Reihe von Monaten hindurch fortgesetzt werden sollte. Er fing wirklich schon an, wieder neue Hoffnung zu schöpfen.
Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet hatte, und Klare-Bel