Ruth - Page 34

Bild von Lou Andreas-Salomé
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lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen liebte.

Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob auch sie ganz leise – leise, heimlich die neue Hoffnung hätschele? Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu werden, Erik entgegengehn zu können auf zwei gesunden Füßen.

Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen frühern Enttäuschungen. Denn das hatte er getan, – nicht grade mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so, denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eignen Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein, wodurch er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So oft hatte sie es im täglichen Leben unter den Menschen seiner frühern Umgebung mit Verwunderung beobachtet, wie belebend es auf ihn wirkte, daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug Erik wirklich schlecht.

Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit offnen Augen. Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; in der Ferne verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer herein.

Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie, »wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik sie also nicht, wie sie ihn?

Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig streckte sich ihre Sehnsucht ihm entgegen.

*

Wie sie es vor ausgesehen hatte, machte sich Erik erst Stunden später auf den Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen, – ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden, er erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.

Der lange Gang von der Station aus tat ihm nach den verflossnen Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein Lufthauch regte sich, am fast taglichten Himmel stand blaß und glanzlos der Vollmond, einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.

Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der Nacht helle dalag, wich die noch erregte Stimmung langsam dem Gefühl ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei den Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.

Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast geräuschlos die Haustür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß. Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.

»Aber Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins Bett!« sagte er.

Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes Gesicht wie einen Willkommgruß.

»War's schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen überwachen Augen an, »sollt' ich denn dabei schlafen? Nein, das konnt ich nicht! denn ich war auch da, – immer mit da. War's schön?«

Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest. Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die dadurch aufgewühlt worden waren, verflogen, er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.

Was bedeutete ihm alle Anregung, ja was aller so ersehnte Beifall oder Erfolg, wonach er im Leben gegeizt und gerungen hatte, gegenüber dem zarten Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete? Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden waren für so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.

Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf, und darüber vergaß er zu antworten.

Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze Welt um sie her in Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt mit Leben, und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen, – verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, – ein Lebenverlangendes, Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und ergriffen hatte, als er Ruth im Schulhof zum erstenmal sah, mit dem Übermut in den Augen und den erhobenen Armen.

Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle, in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.

»Hätt' ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und blickte sie mit einem Lächeln an.

»Doch! Aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, worin sie den Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als sie Ruth meinte, aber Blick, Ton und Haltung drückten es so deutlich aus, daß sie sich in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe Rührung über ihn kam.

Ihm schien, Ruth sehe wie verzaubert aus, – anders, lieblicher als sonst.

Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme. Nur durch die offen gebliebene Haustür zog es ganz leise wie ein geheimnisvolles Raunen und Rauschen, – ein Flüstern, das draußen durch das niedrige Gebüsch ging, – die erste Ankündigung des neuen

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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