Ruth - Page 35

Bild von Lou Andreas-Salomé
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Tages.

»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute Nacht! Guten Morgen, Liebling!«

Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich – fest, so daß sie an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.

Als er sie ebenso rasch wieder los ließ, ergriff Ruth seine Hand und drückte ihre warmen Lippen darauf.

Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf.

Erik öffnete die Mitteltür im Flur, die in das Zimmer von Jonas führte. Er mußte hindurchgehn, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.

»Na, Papa, war's schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«

Damit schlief er weiter.

Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus, und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.

Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am Boden hin, sondern hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und schwoll dann machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel durchklang, die noch kurz vorher lautlos gegen den hellen Nachthimmel gestarrt hatten.

Wie ein Morgenchoral klang es, und – ganz leise, – versuchend, wie im Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein langgezogener unermüdlicher Buchfinkentriller.

Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen. Denn auch über ihnen lag eine zarte und halb verhüllte Stimmung, eine Morgentraumstimmung, so schien ihm.

Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie jetzt, daß sie ja unwiderruflich zueinander gehörten, daß sie im Grunde gleich geartet, gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehn: »Mich mit nehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem, unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß, Verstand und Wille gewesen war. Und daß in ihr noch mit reiner Flamme brannte, was in ihm die Berührung mit dem Leben schon mit Schlacken und Asche vermengt hatte.

Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.

Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind schwieg still. Wie der ragten die alten Bäume regungslos gegen den Himmel, durch dessen Blau zerrißne weiße Wolken schwammen. In einem breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.

Hinter Eriks geschlossnen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben. Im Sonnenschein war er eingeschlafen.

*

Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich wieder auf den gestrigen Tag, noch auf die Nacht stunde. Irgend ein Traum, ein wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht, ich glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie – Ruth. Es ist ja Ruth.«

Und ihm schien, es könne nur eine solche geben.

Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.

Und blitzähnlich wurde er vollständig wach. Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner Liebe.

Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht weil es überhaupt seiner Natur wenig entsprach, über sich nachzudenken. Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen Interesse am Menschen, nicht am Weibe entsprungen war.

Plötzlich war das alles anders geworden.

*

Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch auf Erik, als er endlich zu ihnen hinaustrat. Klare-Bel bemerkte sofort etwas Verändertes, Verschlossenes in seinem Gesicht, und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von Gleichgültigem zu reden begann.

Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches von dem Zusammensein mit dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.

Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch, – ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.

Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung reichlich überwacht und angegriffen aussähe.

Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der Morgensonne,« dachte Erik, während sie sein Seitenblick streifte. Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber unterdrückte, daß er sich verschlafen habe. Sie hatte sich nicht verschlafen. Sie hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.

Aus der gemeinsamen Arbeit wurde es nun diesmal nichts. Hastiger als sonst stand Erik auf, um zu gehn. Die Zeit drängte, und Jonas war schon fort.

Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm läge, und er wieder mit sich selbst allein bliebe. Aber dennoch war ihm weder zum Träumen noch zum Grübeln zumute. Nur nach einem verlangte es ihn dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor ihm stand. Nur nach einem verlangte es ihn: davor still zu stehn und den Blick darauf ruhen zu lassen fest und forschend, wie auf einem fremden Antlitz.

Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah er vorbei, – ganz grade, ganz unverwandt auf den einen Punkt, ohne nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick, kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über Hindernisse, und wären's auch Menschen, geht's hinweg.

*

Ehe sich Erik mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm ein al eine Photographie geschenkt, worauf sie sich im Kreise ihrer ganzen Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in dem er eine Bels

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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