Ruth - Page 36

Bild von Lou Andreas-Salomé
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Gestalt genau entsprechende Öffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein. Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.

Erik war sich's nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso gewalttätig machte: mit seiner eignen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen Umgebung, ja mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken auslöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite, eine Welteneinsamkeit, wo nur Ruths Bild vor ihm stand.

Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.

Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick. Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an sein Bewußtsein heranbringen konnten, das ging von dem fröhlichen Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in ihm wurde still.

Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindliche, worin geheimnisvoll und verheißungsvoll noch die ganze Fülle der Möglichkeiten ruhte, – dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, was noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, – den zarten, bildsamen Stoff, wonach sich seine Hand nur des halb herrisch ausgestreckt hatte, weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?

Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine Gärtnerhoffnungen.

Je länger sich aber Erik in das ihm vor schwebende Bild vertiefte, um so weniger klärte sich ihm sein eignes Gefühl. Er sprach nur noch mit geringer Ehrlichkeit zu sich selbst. Umwiderstehlich erhob sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren. Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.

Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm, der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte, damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt.

*

Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.

Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht. Am besten hätt' es ihr gepaßt, Jonas jetzt da zu haben, aber der saß in der Schule und lernte, der Ärmste. So entschloß sie sich denn, zu Gonne in die Küche hinunterzugehn. Denn lieber noch wollte sie mit den Händen tätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und sich irgend wie lebhaft betätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und »Nachdenken«. Und dann war's auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu planschen.

Gonne konnte es glücklicherweise gut leiden, wenn ihr Ruth so ungebeten mitten in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der landesüblichen Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth, daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm's auch nicht anders, und als entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer ungeschulten weichen Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte tiefernst zu.

Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit auf geschürztem Rock und zurückgestreiften Ärmeln singend und seelenvergnügt am Brunnen. Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die von seiner Phantasie verklärte Gestalt, um derentwillen er die wirkliche Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen, die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen von der Sonne schwach gebräunten Hals.

Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehn, machte Erik plötzlich halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.

Dort lagen noch Ruths Hefte und Bücher, die am Morgen vergebens auf ihn gewartet hatte, unordentlich auf dem Schreibtisch umher. Erik setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander. – – –

Mußte Ruth fort?

Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken umschleierte.

Halb mechanisch blickte er über die Hefte ihn, die aufgeschlagen dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen. Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger Schnörkel.

Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, – ihrem Überströmen. Etwas merkwürdig Logisches.

Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.

Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?

Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths Kopf erschien zwischen den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz emporkletterte.

»Soll ich arbeiten?« fragte sie.

»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er und stand auf; »weißt du, was es in der Mädchenschule für eine Überraschung gab – in der letzten Stunde vor den Ferien? Sie erhoben sich alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht leicht herausbringen. Sie wußten's selbst nicht genau. Sie wollten dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten's nur nicht zu bewerkstelligen.«

Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule zu hören geglaubt. Ganz deutlich fühlte er aus dem unerwarteten »Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber grade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden Mädchenköpfe schaute ihm, wie aus einem Vexierspiel, Ruths Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben zwischen den Hopfenranken dastand.

»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich aus Fenster, »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht in Form von allgemeinen Kursen bei mir

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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