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seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten überstanden waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen.
»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend.
»Es muß sein. Eine Änderung ist da,« antwortete er ausweichend.
Änderung! vielleicht Genesung!
Ja, nur eine große, gewaltige Freude konnt es noch geben: wenn sie selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat auf eigenen Füßen, – da mußte er wohl wieder froh werden.
Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken verträumten sich.
Als die Strahlen der Nachmittagsonne schräger fielen und die Schatten der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die beiden am Tisch, und Ruth stand auf.
Bei diesem Unterricht erschien es Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich, daß immer Ruth seinen Schluß angab. Erik wollte es so: nur sie selbst konnte genau wissen, wann ihre volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, – und das tat er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und Geistes und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt.
Er blickte sie an, wie sie, sonngebräunt und mit vorn übergewehtem Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von grobem ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken und Oberärmeln, – fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein Fürstenkind war sie doch.
Er hatte ein Heft herangezogen, ohne die Absicht, es durchzusehen; nur mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb neben ihm stehn, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken. Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich herrschte er sie wegen eines geringfügigen Versehens, das er gefunden hatte, so heftig an, daß Klare-Bel erschrocken aufsah.
Ruth zog Schultern und Augenbrauen hoch und schüttelte entrüstet den Kopf.
»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, – nicht wahr? Gradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit unverhohlner Selbstverachtung seine Vorwürfe fort.
Erik war verblüfft und mußte über sie lachen.
Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte etwas Derartiges sie scheu gemacht, – sie verscheucht. Jetzt weinte sie nicht mehr drüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie lachte. Lachte sich aus. – Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen verspottete sie eigentlich? Sich selbst, – daran war kein Zweifel. Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus seinem Wesen heraus.
Was war diese Selbstentrückung, dieses Übermaß von Selbstvergessen im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, nur halbbewußt und wider seinen Willen, – wartete?
Klare-Bel hatte mitgelacht.
»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du im Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles teilen mußt. Wirst du dann nicht eifersüchtig sein, wenn eins von den Mädchen mehr kann als du?«
»Warum?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da. Je mehr es sind, desto besser.«
Erik blickte auf. Am Ende würde wirklich eine Dritte im Bunde mit Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte niemand wissen, was sie bei sich dachte.
Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie vor Sonnenuntergang hineinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen umhergetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er Ruth in Beschlag nehmen konnte.
Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den Birken auf und ab gehn. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen einander gegen den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln.
Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr sich mit ihrer Hand liebkosend über seine Wange.
»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an.
Der schrak auf bei dem Ton.
»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher.
»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik und schämte sich vor sich selbst.
Ruth folgte Jonas ins Haus.
Erik war im Garten stehn geblieben und sah den beiden nach.
Da war es wieder, – dies Kindliche, Kindische, dies Unausgewachsne und sonderbar Unreife, worüber er in Ruths Wesen nicht hinweg kam. Es nahm nicht ab, es nahm zu, – es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob sich nun erst auch alle kindlichen Elemente mit entwickelten und zu immer vollerer Auslebung drängten, – und daneben andre, beinahe männliche, die er in ihr bis dahin nur geahnte hatte. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische Richtung auf das Erkennen zu geben, als hätte sie nie in der Phantastik der Träume gelebt. Offenbar hatte das Unentwirrbare, Unklare und Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst zusammengehangen und fiel mit ihnen von ihr ab.
Erik ging langsam ins Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel und sich der Vater grade die Wochentage genommen hatte.
Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube hinaufgegangen sein.
Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts rege.
Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen Holztreppe.
Wie ein Dieb erschien